Letzter Platz für Rostocker im Glücksatlas: Arbeitslos, wo andere Urlaub machen

Rostock macht öfter mal Schlagzeilen, meistens unrühmliche. So auch jetzt: Laut Glücksatlas leben in der Hansestadt die unglücklichsten Großstädter Deutschlands. Dabei gibt es viele Gründe, warum man in Rostock zufrieden sein kann.
Ich sitze auf meinem Badetuch, die Füße im Sand vergraben. Die Sonne scheint und umarmt meinen Körper mit sommerlicher Wärme, sanft rauschen die Wellen der noch eiskalten Ostsee an den Strand von Hohe Düne. Von fern hallt Möwengeschrei, von nah sächsisches Geplapper.
Dann ertönt ein Schiffshorn. Zwei Schiffe der AIDA-Flotte fahren am Leuchtturm von Warnemünde vorbei raus auf die Ostsee. Zahlreiche fröhliche Urlauber stehen auf dem Außendeck und winken, die Schaulustigen am Kai winken zurück. Die Luft flimmert vor Wärme, der Himmel leuchtet orange. Und ich – ich bin unglücklich.
Das sollte ich zumindest sein, laut einem neuen Ranking des SKL-Glücksatlas. Es hat ermittelt, in welchen 40 Großstädten in Deutschland die glücklichsten Menschen leben. Platz 1 belegte Kassel, Platz 40 Rostock. Noch hinter Karlsruhe und Wiesbaden. Die Menschen hier müssen sehr verzweifelt sein, denke ich.
Spaß beiseite (und sämtliche Glückseligkeit). Warum sind die Leute hier nur so unglücklich? Laut SKL-Glücksatlas zeigte sich die höchste Lebenszufriedenheit dort, "wo das Leben familiär, überschaubar, sicher und grün geblieben ist." Das alles traf doch auch auf Rostock zu, dachte ich. Das sind doch auch alles Dinge, die ich an meiner Heimatstadt liebe.
Die Beschaulichkeit der Stadt, die kurzen Wege.
Dass man nicht jeden Tag zwei Stunden mit den Öffis fahren und in überfüllten Bussen unfreiwillig mit fremden Menschen kuscheln muss (ohnehin ein hanseatischer Horror), um von A nach B zu gelangen. Dass man mit einer gering ausgeprägten Ausdauer überall mit dem Fahrrad hinkommt.
Das familiäre Flair.
Bei fast jedem Stadtbummel trifft man Menschen, die man kennt – ob das zum persönlichen Glück beiträgt, sei mal dahingestellt. Doch es gibt einem ein Gefühl von sozialer Ummantelung, von Vertrautheit. Egal, ob man einen Schulkameraden das erste Mal seit zehn Jahren an der Kasse im Supermarkt trifft oder einen ehemaligen Arbeitskollegen nachts um 3 Uhr im Club ("Moin." – "Na." – "Wie is?"– "Muss").
Die Menschen.
Ja, der Rostocker ist ein mecklenburgischer Gnatterkopp, ein mürrischer Mensch. Eher kühl und distanziert, misstrauisch und abwartend. Eigentlich ein Wunder, dass diese Gattung Mensch sich unter diesen Voraussetzungen seit Generationen weiter vermehrt.
Aber der Rostocker ist auch bodenständig und loyal. Eine treue Seele, die man, wenn das Vertrauen zueinander gefasst ist (also nach rund fünf Jahren), so schnell nicht mehr loswird. Der Rostocker schnackt nicht, er macht und kippt nicht gleich bei Windstarke 2 um. Wenn doch, hilft trockener Humor.
Die Nähe zum Wasser.
Sei es im Sommer oder im Winter: Am Hafen zu spazieren oder am Strand zu liegen, hat einfach therapeutischen Charakter. Der Blick aufs Meer beruhigt; das Wellenrauschen ersetzt jede Chill-Out-Playlist. Zudem ist das Meer immer da; der Tidenhub ist deutlich geringer als an der Nordsee. Außerdem fühlt sich ein Strandtag wie ein Kurzurlaub an, aus dem man erholt, aufgeräumt und mit mehr Zuversicht zurückkehrt. Außerdem kann man mit der errungenen Bräune gut angeben.
Nun ja, nicht in jeder Situation. Zumindest politisch nicht. Ich sehe die wesentlichen Probleme Rostocks, allgemein Mecklenburg-Vorpommerns, die Gründe für die Unzufriedenheit. Die Nachwehen der Wende, die Arbeitslosigkeit und die Armutsquote, die über dem Bundesdurchschnitt liegen, die große soziale Spaltung der Stadt.
Kann ich vor diesem Hintergrund meine Heimatstadt lieben? Ja, kann ich. Denn ich sehe auch, was Rostock auszeichnet, wie die Stadt vorankommen will. Die Menschen, die ermöglichen, aufklären, schaffen. Den Wandel, den Widerstand, den Willen.
Diese merkwürdige Ambivalenz der Stadt ist den Rostockern natürlich bewusst. Und weil Angriff die beste Verteidigung ist, wird sie regelrecht zur Schau getragen. Das Credo in der Region: "Arbeitlos, wo andere Urlaub machen".
FOCUS