In Japan sorgt ein Roman für Aufsehen, der in Teilen von Chat-GPT geschrieben wurde


Stell dir vor, alle reden, und keiner hört zu.
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«Es beginnt das Zeitalter der grossen Monologe», heisst es im Roman «Tokyo Sympathy Tower» der japanischen Autorin Rie Qudan. Die in naher Zukunft angesiedelte Science-Fiction-Geschichte thematisiert die immer enger werdende Beziehung von Mensch und Maschine – und damit verbunden die gesellschaftlichen Auswirkungen künstlicher Intelligenz im digitalen Zeitalter, in dem Dialog oft nur noch Kulisse für Monologe ist. Denn was heisst es, einander zu verstehen, und welche Rolle spielt die Empathie im Zusammenleben?
Die im deutschen Sprachraum noch unbekannte japanische Autorin illustriert die Einleitung mit einem Bild, das man auf der ganzen Welt kennt: dem Turmbau zu Babel, umgeben vom Stimmengewirr der Menschen, die einander nicht mehr verstehen. Die gemeinsame Sprache ist ihnen abhandengekommen, ebenso die Bereitschaft, einander zuzuhören. Das Nachdenken über Sprache und ihre Wirkungsweise in der Gesellschaft ist Programm in diesem hochaktuellen Roman, der mit dem angesehenen Akutagawa-Preis ausgezeichnet wurde.
Kann KI kreativ sein?Kurz nach der Preisverleihung erzählte Rie Qudan in einem Interview, fünf Prozent ihres Romans seien von Chat-GPT geschrieben. Damit traf sie einen Nerv der Zeit und löste eine Kontroverse aus. Verdient maschinell generierter Text noch die Bezeichnung Literatur? Kann KI überhaupt kreativ sein und etwas Neues erschaffen, oder handelt es sich dabei nicht vielmehr um eine unverschämte Aneignung?
Jedenfalls wand sich der gesamte Literaturbetrieb einmal kurz – nur um dann würdigend festzustellen, dass die Autorin selbst ja gar kein Geheimnis daraus gemacht habe. Bei den KI-generierten Textpassagen im Buch handelt es sich nämlich um die Antworten eines Chatbots auf Fragen der Hauptfigur und folglich um eine authentische Wiedergabe. Doch der Reihe nach.
In Qudans Roman geht es noch um ein weiteres Turmbauprojekt: Die Architektin Sara Machina ist beauftragt mit der Planung einer neuartigen Haftanstalt im Herzen von Tokio. Der Bau in Form eines eleganten Turms inmitten des Shinjuku-Gyoen-Parks ähnelt eher einer Luxusklinik als einem Gefängnis. Hier sollen sich die Insassen unter menschenwürdigen Bedingungen rehabilitieren können. Radikales Mitgefühl statt Staatsgewalt – «Sympathy» eben.
Doch der harmonische Gedanke hat eine düstere Kehrseite, weshalb die Architektin Machina nicht nur um ihre Sprache, sondern zugleich mit einem moralischen Dilemma ringt. Denn als Opfer einer Vergewaltigung kennt sie aus eigener Erfahrung die Konsequenzen einer euphemistischen Sprache, die krasse Sachverhalte mildernd ausdrückt, anstatt sie klar zu benennen. Aus einem Gewaltakt wird so ein blosser Übergriff, und die betroffene Person wird schlimmstenfalls lächerlich gemacht.
Muss man denn alles mit einem englischen Namen versehen und dadurch sogar einem Gefängnis seine Schwere nehmen? Und liegt nicht eine Opfer-Täter-Umkehr vor, wenn ein Straftäter kein Verbrecher mehr ist, sondern ein «homo miserabilis»?
Sound der globalisierten GegenwartDas Japanische absorbierte neue Wörter schon immer rasch und unkompliziert, und so ist auch das zeitgenössische Japanisch reich an Fremdwörtern. Durch die Wiedergabe in der leicht eckig wirkenden phonetischen Silbenschrift Katakana stechen diese im Schriftbild zusätzlich hervor. Diese neuen Wörter tönen «nice» und «fresh» und liefern den Sound der globalisierten Gegenwart. Doch hassen die Leute die japanische Sprache so sehr, dass sie diese durch eine Flut von Anglizismen zu ersetzen versuchen?
Geplagt von derlei Gedanken, wendet sich die Protagonistin in ihrer sprachphilosophischen Verzweiflung ratsuchend an den Chatbot namens AI-built. Praktischerweise erkennt die KI halbfertig eingetippte Fragen als solche und serviert sogleich höflichst Antworten. Doch die Flut der ungebetenen Ausführungen «fühlt sich an wie Mansplaining und nervt total. Und mit dieser Sprache, die so smart und polite daherkommt, vertuscht er doch bloss seinen kompletten Analphabetismus» – um es mit den Worten von Sara Machina zu sagen.
In diesem willfährigen Gehorsam, stets streberhaft bemüht, jedoch frei von Neugier und dem Bewusstsein, nur zusammengeklaubtes Wissen zu reproduzieren, kommen Macht und Schwäche der künstlichen Intelligenz in ihrer ganzen Ambivalenz zum Ausdruck. Die KI als einzige Zuhörerin in einer von Monologen erfüllten Welt ist weder zu echtem Interesse noch zu Empathie fähig. Ein Bewusstsein für Fehler hat die Maschine nicht, denn sie plappert einfach nach, was ihr der Algorithmus an auffindbaren Informationen und Stereotypen liefert. «Errare non solum humanum est» – doch zumindest das Wissen um die eigene Unzulänglichkeit bleibt zutiefst menschlich. Das lässt sich in diesem Roman lernen.
nzz.ch