INTERVIEW - «Die Leute fanden, ich sei verrückt»: der fabelhafte Aufstieg eines der einflussreichsten Kunsthändler der Welt


Melissa Goodwin, courtesy Pace Gallery / © 2025, Pro Litteris, Zürich
Er ist in seinem gestreiften Anzug und der roten Brille eine elegante Erscheinung, trotz seinen 87 Jahren. Arne Glimcher gründete im Alter von 21 Jahren die Pace Gallery, die heute zu den grössten und einflussreichsten Kunstgalerien der Welt gehört. In dieser Jahreszeit reist er normalerweise in die Schweiz, an die Art Basel. Nun aber bleibt er in New York, wo die Galerie den Hauptsitz hat. «Mein Hund hatte Lungenkrebs», sagt er. Die Operation sei gut verlaufen. «Ich kann ihn jetzt aber nicht alleinlassen.» Das Gespräch findet deshalb per Videoanruf statt.
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Herr Glimcher, die Zeit der grossen Messen scheint vorbei, die Uhrenmesse Baselworld und den Automobilsalon in Genf gibt es nicht mehr. Wie wichtig ist die Art Basel noch?
Für uns hat die Bedeutung in den letzten Jahren eher noch zugenommen. Früher flogen die grossen Sammler mehrmals im Jahr zu uns nach New York. Dies ist nun weniger der Fall, dafür kommen sie zu jeder Kunstmesse. Das jüngere Publikum strömt weiterhin in die lokalen Galerien, unser neuer Ableger in Berlin hatte in den ersten vier Tagen 10 000 Besucher. Die Kunstmessen sind aber sehr wichtig. Deshalb bringen wir einige unserer besten Werke nach Basel: einen späten Picasso, ein grossartiges Gemälde von Mark Rothko, einen wunderschönen Julian Schnabel und ein aussergewöhnliches Gemälde von Joan Mitchell.
Das sind alles millionenteure Werke. Hängen die da, um Kundschaft anzulocken, oder stehen die tatsächlich zum Verkauf?
Alles an der Art Basel steht zum Verkauf. In unserer Galerie in New York machen wir viele Ausstellungen mit Werken aus Privatsammlungen, die nicht verkäuflich sind. Aber die Besucher der Art Basel wollen Kunst kaufen – und wir wollen natürlich Kunst verkaufen.
Sie sind der Art Basel seit Jahrzehnten verbunden.
Ich war eng befreundet mit Ernst Beyeler, dem grossen Basler Galeristen und Gründer der Art Basel. Oft haben wir in unseren Galerien dieselben Künstler ausgestellt. In den siebziger Jahren habe ich in New York eine grosse Ausstellung gemacht unter dem Titel «Beyeler at Pace». Ernst stellte uns seine spektakulärsten Meisterwerke zur Verfügung. Wir haben beide profitiert: Beyeler war zuvor in den USA noch weitgehend unbekannt gewesen, ich habe ihn sozusagen auf einer breiten Ebene in dieses Land eingeführt.
Die Kunstwelt hat sich in Ihrer Laufbahn enorm verändert. In jungen Jahren haben Sie unter anderem Gemälde des damals noch unbekannten Andy Warhol für 250 Dollar verkauft.
Und die Leute fanden, ich sei verrückt, solche Künstler zu unterstützen! Kaum jemand erkannte die Bedeutung dieser avantgardistischen Werke. Wir Händler von zeitgenössischer Kunst waren eine Art Missionare. Es gab damals viel weniger Künstler als heute, und sie schufen etwas Revolutionäres, etwas noch nie Dagewesenes. Wir kannten uns alle, waren Freunde. Heute, 65 Jahre später, ist die persönliche Beziehung zu den Künstlern noch immer meine grösste Motivation.
Sie haben einmal geschrieben: «Wir lebten einst in der Kunstwelt, heute leben wir im Kunstmarkt.»
Das Zitat stammt nicht von mir, sondern vom Maler Eric Fischl. 1960 eröffnete ich meine Galerie mit nur 2800 Dollar und ohne jegliche Kenntnisse, wie man ein solches Geschäft führt. Eigentlich wollte ich selbst Künstler werden und besuchte die Kunstschule – aber mein kritisches Auge befand meine Arbeiten als nicht gut genug. Der Beruf des Kunsthändlers erlaubte es mir, trotzdem in der Welt der Kunst zu leben. Ich habe den Kunsthandel nie in erster Linie als Geschäft betrachtet. Einige Künstler, die ich in den frühen sechziger Jahren unterstützte, zum Beispiel John Chamberlain, Claes Oldenburg oder Robert Irwin, wurden zu bedeutenden Figuren der Kunstgeschichte. Wir arbeiteten jahrzehntelang zusammen und waren eng befreundet.
Wichtig war vor allem Mark Rothko.
Zufälligerweise wohnten wir in derselben Strasse, einander genau gegenüber. Manchmal, wenn ich nachts von meiner Galerie nach Hause kam und bei ihm noch Licht brannte, klopfte ich an die Tür. Mark liess mich rein und zeigte mir, woran er gerade arbeitete. Wir sprachen über alles Mögliche, manchmal blieb ich so lange, dass ich das Abendessen mit meiner Frau und den Kindern verpasste. Wegen solcher Beziehungen wurde ich Kunsthändler.
Sie waren auch mit dem bekanntesten Schweizer Künstler befreundet: Alberto Giacometti.
Nicht so eng wie mit Mark Rothko, aber ja, wir waren Freunde. Ich lernte ihn 1962 auf der Biennale von Venedig kennen, da war ich gerade 25 Jahre alt. Er war ungeheuer beeindruckend, eine sehr gewinnende Persönlichkeit! Giacometti empfing mich in dem Pavillon, in dem er seine Werke arrangierte. Allerdings war er mit der Platzierung seiner Skulpturen unzufrieden. Wir machten Mittagspause, und als ich zurückkam, hatte Giacometti Farbe und Pinsel gekauft und war dabei, die Skulpturen zu bemalen. Es war erstaunlich, wie diese Intervention die Installation veränderte. Ich besuchte ihn dann mehrmals in Paris, manchmal im Atelier, manchmal zum Mittagessen. Er war ein Juwel.
Sie haben seine Werke in den USA verkauft.
Ich erzähle Ihnen eine interessante Geschichte zu seiner Skulptur «L’Homme qui marche», die vor einigen Jahren zum Rekordpreis von über 100 Millionen Dollar verkauft wurde. Ich ging mit ihm und seiner Kunsthändlerin Erika Brausen Mittagessen. Erika sagte zu Alberto: «Arne hat deine Skulptur für 53 000 Dollar verkauft.» Er schaute mich an, zeigte mit dem Finger auf mich und sagte: «Du kommst ins Gefängnis für diesen unverschämten Preis!»
Einer Ihrer grössten Coups als Kunsthändler gelang Ihnen 1980. Sie konnten erstmals ein Werk eines lebenden Künstlers für eine Million Dollar verkaufen: Jasper Johns’ «Three Flags». Wie kam es dazu?
Das war sehr aufregend. Das Bild gehörte Burton und Emily Tremaine. Ein deutscher Sammler bot dem Paar 500 000 Dollar, was zu jener Zeit ein sehr hoher Preis war. Ich sagte Emily, dass ich es schrecklich fände, wenn dieses uramerikanische Gemälde nach Europa gehen würde. Also fragte ich sie, ob sie bereit wäre, es an ein amerikanisches Museum zu verkaufen, wenn ich den Preis auf eine Million Dollar erhöhen könnte. Sie stimmte zu. Ich rief meinen Freund Leonard Lauder an, damals Präsident des New Yorker Whitney-Museums. Er war von der Idee begeistert und fand drei weitere Gönner, die jeweils 250 000 Dollar beisteuerten. Der Kauf war ein grosser Erfolg für das Museum, in der ganzen Welt wurde darüber berichtet.
A Whitney Museum of American Art / AP / © Pro Litteris
Wie reagierte der Künstler, Jasper Johns?
Zur Feier des Tages schickte ich ihm eine schöne Kiste Wein und einen Brief, in dem ich ihm erklärte, dass ich bei dem Verkauf auf eine Provision verzichtet hatte, dass es mir nur darum gegangen sei, das Gemälde in Amerika zu halten. Jasper schrieb mir zurück, dass eine Million eine enorme Summe für jemanden seiner Generation sei, ein solcher Betrag habe mit Kunst aber nichts zu tun. Er hatte absolut recht. Auch wenn heute ein Gemälde unter grossem Getöse für 50 oder 100 Millionen Dollar verkauft wird, sage ich immer noch: Mit Kunst hat das nichts zu tun. Oder wie Ad Reinhardt sagte: «Kunst ist Kunst, und alles andere ist alles andere.»
Das kann man leicht sagen, wenn man viel Geld damit verdient.
Solch hohe Beträge werden nicht nur in Galerien erzielt, sondern vor allem auch bei Auktionen. Wir haben in unserer Galerie schon mehrere Werke für über 100 Millionen Dollar das Stück verkauft. Die Kunst verändert das nicht. Ein Matisse malte, weil er malen musste, nicht weil irgendwann in der Zukunft Millionen für seine Werke bezahlt werden. Bei grossen Künstlern ist das immer der Fall.
Viele der Künstler, die Sie von Anfang an begleiteten, wurden zu Millionären.
Es ist interessant: Mark Rothko, Jean Dubuffet, Louise Nevelson und Agnes Martin wurden zwar reich, lebten aber genau gleich weiter wie vorher. Heutige Künstler leben oft wie Stars, besitzen selber Kunstsammlungen und Villen in den Luxusvierteln. Ich werte das nicht, ich stelle nur fest: Frühere Avantgarde-Künstler grenzten sich bewusst von der Bourgeoisie ab. Heute sind sie oft selbst Teil davon. Die Grenzen haben sich aufgelöst.
Was sagen Sie zu Leuten, die finden, derart hoch gehandelte moderne Kunst sei so etwas wie «Des Kaisers neue Kleider»?
Sie sollen die Werke ohne Vorurteile betrachten. Als ich jung war, sagte man über die Kunst von Yves Klein, Mark Rothko und vor allem Jackson Pollock: «Mein Kind könnte das auch.» Dann kam die Pop-Art, und die Leute sagten: «Diese Suppendosen kann ich im Supermarkt kaufen, das ist keine Kunst.» Kunst war immer schon eine Herausforderung. Die italienische Malerei des Quattrocento zum Beispiel oder die Werke der Renaissance waren sehr anspruchsvoll. Die zeitgenössischen Künstler sind Teil dieses grossen Abenteuers, das im 14. Jahrhundert begann. Die Künstler schaffen eine Sprache, die unsere Wahrnehmung erweitert. Es braucht Zeit, diese Sprache zu lernen, aber es lohnt sich enorm.
Kürzlich hat ein Krypto-Unternehmer 6,2 Millionen US-Dollar bezahlt für eine gewöhnliche Banane, die mit Klebeband an eine Wand geklebt war – ein Werk des Künstlers Maurizio Cattelan. Was sagt der Kunsthändler dazu?
Ich fand das Werk ziemlich albern. Nicht, weil ich eine solche Idee grundsätzlich ablehne, sondern weil sie sehr alt ist. Vor mehr als hundert Jahren stellte Marcel Duchamp ein Pissoir auf einen Sockel und stellte es als Kunst aus. Das war revolutionär. Die Banane ist ein Echo auf diesen Akt. Obwohl ich Cattelan für einen wunderbaren Künstler halte, glaube ich nicht, dass die Banane ein bedeutendes Werk ist.
Sie haben einmal gesagt, Kunst sei die neue Religion. Weil man daran glauben muss?
Nein, weil sie die Menschen auf eine andere Ebene des Verständnisses bringt. Kunst öffnet den Blickwinkel für das, wofür die Worte fehlen. Als es mir in der Anfangszeit meiner Galerie finanziell schlecht ging und ich nicht wusste, ob ich die Ausgaben des nächsten Monats noch stemmen kann, ging ich jeweils ins Museum of Modern Art und schaute mir Picassos «Les Demoiselles d’Avignon» und das monumentale Kriegsgemälde «Guernica» an. Diese Bilder erfüllten mich mit so viel Ekstase und Hoffnung, dass ich wusste: Wir werden es schaffen.
«Guernica» war damals noch in New York?
Ja, bis zur Rückführung nach Spanien 1981. Inklusive aller dazugehörenden Skizzen und Zeichnungen. Für mich war das die grösste Inspiration.
Kriege und politische Umbrüche haben in der Geschichte oft einen künstlerischen Schub ausgelöst. Wir leben wieder in unsicheren Zeiten. Macht sich das in der Kunst bemerkbar?
Es macht sich überall bemerkbar. Die Kunst funktioniert nicht losgelöst vom politischen Geschehen. Und zurzeit leben wir in einer furchtbaren Zeit. Die USA waren immer ein Anker in einer unsicheren Welt. Das ist vorbei. Ich liebe dieses Land, es ist das wunderbarste der Welt! Jetzt fühlt es sich für mich aber an, als sei es gekidnappt worden. Das beeinflusst bestimmt auch die Künstler. Viele Menschen scheinen gerade wie gelähmt zu sein.
Während des Ersten Weltkriegs entstand der Dadaismus, nach dem Zweiten der Kubismus – jedes Mal ein Quantensprung. Was kommt jetzt?
Das weiss niemand. Es gibt Menschen, die sagen, es komme nichts Neues mehr, alles sei nur eine Kopie von schon Dagewesenem. Das stimmt nicht. Ich bin überzeugt: Irgendwo da draussen ist die neue Kunst bereits da, wir wissen es einfach nicht. Der Künstler Jean Dubuffet hat mir einmal gesagt: «Nimm dich in acht vor der neuen Kunst, denn wenn sie kommt, wirst du sie nicht erkennen.» Das sind spannende Voraussetzungen. Dies ist ein weiterer Grund, warum ich meinen Beruf liebe und warum ich weiterarbeite.
«Pace: 65 Years»: Jubiläumsausstellung beim Genfer Ableger der Pace Gallery, bis 9. August. Art Basel: 19. bis 22. Juni.
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