Lenin verfügte über eine ausgeprägte politische Intuition, gepaart mit einem brutalen Willen zur Macht


Illustration Simon Tanner / NZZ
Am 22. Januar 1917 trat Lenin im Zürcher Volkshaus vor der Schweizer Arbeiterjugend auf. Er sprach auf Deutsch über die kommende europäische Revolution, die aus dem Krieg heraus entstehen werde. Er glaubte nicht, dass er selbst eine Rolle in der neuen Zeit spielen könne.
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Er schloss seinen Vortrag mit den Worten: «Wir, die Alten, werden vielleicht die entscheidenden Kämpfe dieser kommenden Revolution nicht erleben. Aber ich glaube mit grosser Zuversicht die Hoffnung aussprechen zu dürfen, dass die Jugendlichen (. . .) das Glück haben werden, nicht nur zu kämpfen, sondern auch zu siegen in der kommenden proletarischen Revolution.»
Lenin irrte sich. Einen Monat später dankte Zar Nikolaus II. ab. Und kein Jahr war vergangen seit seinem Auftritt in Zürich, als Lenin im Januar 1918 ein autokratisches System errichtete, das er seinen Anhängern als «Diktatur des Proletariats» verkaufte.
Riskante StrategieLenin hatte sich bereits früh radikalisiert. 1887 war sein älterer Bruder Alexander wegen der Vorbereitung zu einem Attentat auf den Zaren gehängt worden. Lenin war damals siebzehn Jahre alt. Er wollte das zaristische Russland nicht reformieren, sondern zerstören. Deshalb kritisierte er auch Hilfsaktionen während der verheerenden Hungersnot von 1891, der über eine halbe Million Menschen zum Opfer fielen.
Lenin folgte der Devise «Je schlechter, desto besser». Jede Katastrophe erhöhte aus seiner Sicht die Chancen auf eine radikale Umwälzung der bestehenden Gesellschaftsordnung. Reformen waren für Lenin nur schädlich.
Die Ablehnung aller Kompromisse war zunächst eine riskante Strategie. Lenin verlor eine ganze Reihe von engagierten Mitkämpfern, weil er sich für eine eingeschworene, schlagkräftige Truppe von Berufsrevolutionären entschied. Noch 1898 hatte Lenin einen der klügsten Köpfe Russlands, den «legalen Marxisten» Pjotr Struve, an seiner Seite. Der gleichaltrige Struve stammte aus einer wohlhabenden baltendeutschen Familie, sein Vater hatte es im Zarenreich bis zum Gouverneur gebracht.
Struve wandelte sich bald vom überzeugten Marxisten zu einem liberalen Politiker, was ihn aus Sicht der zaristischen Behörden allerdings nicht weniger verdächtig machte. 1903 gründete er mit gleichgesinnten Intellektuellen in Schaffhausen den «Befreiungsbund». Aus dieser Gruppe ging nach der ersten Revolution von 1905 die sogenannte Kadettenpartei hervor, die ihren Namen von der Abkürzung «KD» (Konstitutionelle Demokraten) herleitete.
Der Soziologe Max Weber beobachtete die Vorgänge in Russland damals sehr genau. Das zaristische «Oktobermanifest» von 1905, das erstmals in Russland ein Parlament einführte, vermied sorgsam den Begriff der «Verfassung». Max Weber sprach treffend von einem «Scheinkonstitutionalismus».
Das Programm des «Befreiungsbundes» resümierte Weber in vier Punkten: 1. bürgerliche Freiheitsrechte, 2. konstitutioneller Rechtsstaat, 3. Sozialreform nach westeuropäischem Vorbild, 4. Agrarreform. Das war natürlich denkbar weit entfernt von der bolschewistischen Zwangsbeglückung, die Lenin mit eiserner Faust durchsetzte.
Lenin spaltet die ParteiAus den einstigen Weggefährten Lenin und Struve wurden erbitterte Feinde. Im Pariser Exil zeichnete Struve in seinen Memoiren ein äusserst negatives Bild des Revolutionsführers. Lenin sei von asketischem Machthunger besessen gewesen und habe überhaupt keinen Sinn für Kompromisse gehabt. Schon 1920 hatte Struve Lenin als «denkende Guillotine» bezeichnet und ihm «persönliche Bosheit» und «moralische Perversion» attestiert.
Umgekehrt schenkte auch Lenin Struve nichts. Nach dem Bruch mochte Lenin nicht einmal mehr ausschliessen, dass Struve umgebracht werden sollte. Überhaupt zeichnete sich Lenin in seiner politischen Arbeit durch kompromisslose Härte aus. Er setzte eine revolutionäre Linie durch, die wenig Rücksicht auf die marxistische Geschichtsphilosophie nahm.
Dafür hatte er 1903 sogar die Spaltung der Partei in Kauf genommen. Bei einer zufälligen Abstimmung obsiegte seine Fraktion, die er prompt Bolschewiki («Mehrheitler») taufte, um den Führungsanspruch gegenüber den Menschewiki («Minderheitler») zu verdeutlichen. Die Menschewiki waren bereit, auf dem Weg zum Sozialismus und Kommunismus die von Marx vorgesehene bürgerliche Epoche in Russland zu akzeptieren.
Lenin hingegen glaubte, dass das Zarenreich das «schwächste Glied» in der Kette des Imperialismus sei. Eine russische Revolution würde aus seiner Sicht eine Weltrevolution in den industrialisierten Staaten auslösen.
Bald nahm der Lauf der Geschichte Lenin die Last aller theoretischen Spekulationen ab. Im Februar 1917 dankte der Zar angesichts der desolaten Versorgungslage und der sich abzeichnenden militärischen Niederlage ab. Anschliessend formierte sich eine provisorische Regierung, die von linken Sozialrevolutionären dominiert wurde.
Allerdings übernahm die provisorische Regierung bald die aussenpolitische Position der «Kadetten», die noch immer an illusorischen Kriegszielen festhielten. Dieser fatale Fehler kostete die provisorische Regierung letztlich den Rückhalt in der kriegsmüden Bevölkerung.
Menschliches DynamitNach dem Ende der Zarenherrschaft gab es für Lenin im Schweizer Exil kein Halten mehr. Mithilfe des Schweizer Kommunisten Fritz Platten erhielt Lenin die Erlaubnis der deutschen Regierung, in einem versiegelten Güterwagen nach Russland einzureisen.
Für Deutschland war Lenin menschliches Dynamit, mit dem Russland endgültig besiegt werden sollte. In der Tat lieferte Lenin genau das, was sich Deutschland erhofft hatte. Kaum war er in Petersburg angekommen, veröffentlichte er seine «Aprilthesen». Er forderte den Sturz der provisorischen Regierung und ein sofortiges Kriegsende.
Im Juli 1917 versuchten die Bolschewiki ein erstes Mal, sich an die Macht zu putschen. Dieser Versuch scheiterte kläglich. Lenin war schon zuvor mit einer Perücke aus Petersburg geflohen und versteckte sich in Finnland. Ende Oktober schien eine weitere Gelegenheit gekommen. In einer Kommandoaktion besetzte Lenins Kampfgefährte Trotzki strategische Punkte in der Hauptstadt und schlug die provisorische Regierung in die Flucht.
Was später in der Sowjetpropaganda als «Grosse Sozialistische Oktoberrevolution» verherrlicht wurde, war in Wahrheit nur ein Putsch einer kleinen Aktivistengruppe. Ein «Sturm auf das Winterpalais» wurde erst zum dritten Jubiläum der Ereignisse vom Oktober 1917 nach allen Regeln der Theaterkunst inszeniert.
Der Regisseur Nikolai Jewreinow hatte über zehntausend Komparsen aufgeboten, um die Unterstützung der Bolschewiki durch die «revolutionären Volksmassen» glaubhaft erscheinen zu lassen. Für das Kino verewigte Sergei Eisenstein 1927 im Film «Oktober» zum zehnjährigen Jubiläum der Revolution den Mythos des «Sturms auf das Winterpalais».
Die Roten siegen im BürgerkriegAm 3. März 1918 unterzeichneten Deutschland und Russland in Brest-Litowsk einen Separatfrieden. Zwar hatte Lenin im November 1917 in seinem «Dekret über den Frieden» noch einen «Frieden ohne Annexionen und Kontributionen» gefordert. Angesichts der desolaten militärischen Lage war aber sogar dieser Vorschlag überzogen. Lenin setzte gegen den Willen seiner Mitstreiter einen Frieden mit enormen russischen Gebietsverlusten durch.
Der Preis für den Frieden war schmerzhaft, aber Lenin hatte sehr genau gesehen, dass er sich die Unterstützung der Bevölkerung nur durch das Beendigen des Kriegs sichern konnte. Indessen ging in Russland der Erste Weltkrieg nahtlos in den Bürgerkrieg über. Den «Roten» standen die «Weissen» gegenüber, die konservative und nationalistische Ideale des Zarenreichs verteidigen wollten.
In dieser Situation entschieden sich Grossbritannien, Frankreich, die USA und Japan, in Russland zu intervenieren. Sie unterstützten die weisse Armee und schickten auch eigene Truppen, um die Bolschewiken zu bekämpfen und eine Ausbreitung der Revolution auf Europa zu verhindern.
Besonders taten sich die tschechoslowakischen Legionen hervor, die im Sommer 1918 fast die gesamte Strecke der transsibirischen Eisenbahn kontrollierten. In erbitterten Kämpfen gelang es allerdings der Roten Armee, bis 1922 den Sieg im russischen Bürgerkrieg zu erringen. Entscheidenden Anteil hatte dabei der Kriegskommissar Lew Trotzki, der als brillanter Militärstratege und rücksichtsloser Henker auftrat.
Bereits die provisorische Regierung hatte eine verfassunggebende Versammlung versprochen, verschob aber die Einberufung einer Konstituante in Erwartung eines günstigen Kriegsendes immer wieder hinaus. Lenin bediente mit machiavellistischer List auch dieses Bedürfnis der russischen Intellektuellen. Die verfassunggebende Versammlung tagte dann kurz zu Beginn des Jahres 1918.
Lenin hatte jedoch von Anfang an eine Schmierenkomödie geplant. Die Bolschewiki sabotierten die Debatten, wo sie nur konnten, und schlossen die Veranstaltung nach nur dreizehn Stunden. Sprichwörtlich geworden ist die Begründung der Rotgardisten für die Beendigung der Beratungen: «Die Wache ist müde.»
Mörderischer Sommer 1918Die Bolschewiki unterschieden sich von den übrigen linken Gruppierungen, die um die Macht buhlten, durch ihren unbedingten Willen zur Gewalt. Im Mai 1918 rief Lenin offen dazu auf, «nicht vor barbarischen Methoden im Kampf mit der Barbarei zurückzuschrecken».
Der Kampf gegen wirkliche und angebliche Konterrevolutionäre intensivierte sich vor dem Hintergrund verschiedener Attentate. Im Sommer 1918 überschlugen sich die Ereignisse. Am 9. Juli wurde der deutsche Botschafter Wilhelm von Mirbach-Harff von linken Sozialrevolutionären ermordet. Am 30. August verübte die Sozialrevolutionärin Fanny Kaplan einen Anschlag auf Lenin. Am selben Tag wurde der Tscheka-Leiter Moissei Urizki erschossen.
Als Antwort auf diese Anschläge entfesselte Lenin den «Roten Terror». Auch die Zensur und die Todesstrafe, auf die der Revolutionsführer zunächst publikumswirksam verzichtet hatte, wurden erneut eingeführt.
Am 17. Juli 1918 erschossen die Bolschewiki den Zaren, die Zarin und ihre fünf Kinder in Jekaterinburg kaltblütig. Schon seit der Februarrevolution hatte die ehemalige Herrscherfamilie an verschiedenen Verbannungsorten unter Hausarrest gestanden. Durch den öffentlichkeitswirksamen Zarenmord machten die Revolutionäre klar, dass eine Rückkehr Russlands zur Monarchie ausgeschlossen sei.
Aufstände werden niedergeschlagenIm Sommer 1920 erhoben sich im Gebiet Tambow die Bauern gegen die bolschewistische Herrschaft. Die Rote Armee unter der Führung von Marschall Tuchatschewski schlug den Aufstand mit unfassbarer Brutalität nieder. Gegen die Rebellen wurde sogar Giftgas eingesetzt. Die Kämpfe glichen bald einem Bürgerkrieg. Die Bolschewiki exekutierten etwa 15 000 Menschen und verschickten 100 000 Männer, Frauen und Kinder in verschiedene Arbeitslager. Inoffizielle Nachrichten über das gnadenlose Vorgehen der Roten Armee führten indessen bald zu Massenaustritten aus der kommunistischen Partei.
1921 kam es in der Festung Kronstadt zu einem Matrosenaufstand. Die Soldaten protestierten gegen die bolschewistische Parteidiktatur und forderten eine Rückkehr zur revolutionären Rätedemokratie. Damit war aber das totalitäre Projekt der Bolschewiki im Innersten bedroht. Erneut kam Marschall Tuchatschewski zum Einsatz. Unter enormen Verlusten liess er die Festung erstürmen. Auf die Niederschlagung des Aufstandes folgten erneut zahlreiche Hinrichtungen und Deportationen.
Der bolschewistischen Führung war klar, dass der Kriegskommunismus nicht auf Dauer zu halten war. Deshalb rief Lenin 1921 die «neue ökonomische Politik» ins Leben, die ganz unmarxistische Elemente wie Privathandel, Eigentum und Kapitalakkumulation propagierte. Schon unmittelbar nach dem Oktoberumsturz hatte sich Lenin ideologisch flexibel gezeigt, wenn es um Machtfragen ging.
Das «Dekret über den Frieden» ersetzte die Forderung der Umwandlung des Weltkriegs in einen internationalen Bürgerkrieg durch russischen Pazifismus. Und das «Dekret über den Boden» sah zwar die Enteignung von Grossgrundbesitzern vor, nicht aber von einfachen Bauern und Kosaken.
Lenin hatte in fünf Jahren eine Schreckensherrschaft aufgebaut. Er arbeitete Tag und Nacht für die Durchsetzung der bolschewistischen Ordnung. Doch die enorme Anstrengung forderte ihren Tribut. Im Mai 1922 erlitt er den ersten von vier Schlaganfällen, die ihn schrittweise lähmten, die Sprachfähigkeit nahmen und schliesslich in einer furchtbaren Agonie verenden liessen.
Vorbild für Hitler und MussoliniDie Oktoberrevolution wurde in Europa sowohl als Schreckensereignis wie auch als Faszinosum wahrgenommen. In Italien und Deutschland hatte das Resultat des Ersten Weltkriegs zu grosser Unzufriedenheit geführt. «Versailles» wurde zu einem italienischen und deutschen Schimpfwort. Gabriele d’Annunzio prägte die Losung des «verstümmelten Sieges» (vittoria «mutilata»), weil Italien auf Gebietsansprüche in Dalmatien verzichten musste. In Deutschland kursierte der Mythos, das Heer sei «im Felde unbesiegt» geblieben und von «hinten erdolcht» worden.
Vor diesem Hintergrund musste das rabiate Vorgehen der russischen Bolschewiki als strahlendes Vorbild für souveränes politisches Handeln erscheinen. Sowohl Mussolini als auch Hitler betrachteten sich als Revolutionäre, obwohl am Anfang ihrer Herrschaft keine Revolutionen standen.
Die Oktoberrevolution stellte ein attraktives Deutungsangebot für die Selbstpräsentation der Faschisten und Nationalsozialisten dar. Goebbels ging in seiner Revolutionsbegeisterung so weit, dass er Lenin sogar vom doktrinären Kommunismus ablöste und zum nationalen Führer verklärte. Kein Zar habe das russische Volk in seinen nationalen Instinkten so verstanden wie Lenin, meinte Goebbels und fügte hinzu: «Lenin opferte Marx und gab dafür Russland die Freiheit.»
Nach Lenins Tod 1924 fand Goebbels in seinem Tagebuch hochtrabende Worte für den Führer der russischen Revolution: «Lenin ist am 21. 1. gestorben. Der grösste Geist des kommunistischen Gedankens. Den ersetzt ihr nicht. Der führende Kopf in Europa. Vielleicht wird er später einmal ein Sagenheld.»
Hitler selbst nahm eine viel skeptischere Haltung als Goebbels ein. 1920 fragte Hitler auf einer NSDAP-Versammlung: «Was ist im bolschewistischen Russland erreicht worden? Die Bürokratie ist riesig angewachsen, der Militarismus grösser denn je, von der Todesstrafe wird ausgiebig Gebrauch gemacht.» Hitler bezeichnete Lenin als «Juden» und «Massenmörder».
Mussolini legte gegenüber dem russischen Revolutionsführer eine sehr ambivalente Haltung an den Tag. Einerseits kritisierte er die bolschewistische Gewaltherrschaft, die brutaler sei als jene der Zaren. Andererseits zeigte sich Mussolini beeindruckt von Lenins Durchsetzungskraft: «Ich erkläre, dass ich alle Bolschewismen ablehne, aber wenn ich einen wählen müsste, dann nähme ich jenen aus Moskau und von Lenin, ausschliesslich weil er gigantische, barbarische, universale Ausmasse angenommen hat.»
Mussolini bewunderte den schnellen und effizienten Aufbau staatlicher Strukturen in Sowjetrussland. Er liess sich zu rhapsodischen Begeisterungsstürmen über Lenins Diktatur hinreissen: «In Lenins Russland gibt es nur eine Autorität: seine. Es gibt nur eine Freiheit: seine. Es gibt nur ein Gesetz: seines.»
Wie für Hitler war auch für Mussolini die Oktoberrevolution letztlich eine Verschwörung gegen das russische Volk, aber keine jüdische, sondern eine deutsche. Mussolini deutete die jüdischen Familiennamen der bolschewistischen Revolutionäre als reine «tedescheria» (Deutschtümelei). Dabei warf er jedoch einiges durcheinander: Lenin war für ihn «Ceorbaum» – Zederbaum ist aber der Familienname des Menschewikenführers Juli Martow, der sich ja gerade gegen die Oktoberrevolution ausgesprochen hatte. Daneben führte Mussolini die Revolutionäre Apfelbaum, Rosenfeld und Bronstein an, also Sinowjew, Kamenew und Trotzki. Am 4. Dezember 1917 schrieb Mussolini in einem Artikel kurz und bündig: «Lenins Regierung ist deutsch.» Und am 2. März 1918 hiess es apodiktisch: «Ob oben der Kaiser oder der Zar oder Lenin ist, kommt auf dasselbe heraus.»
Putin würde Lenin gerne beseitigenIn der Sowjetunion wurde die Oktoberrevolution als Gründungsereignis des ersten Arbeiter- und Bauernstaats auf der Welt gefeiert. Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems verpuffte auch die kommunistische Ideologie. Der Jahrestag der Oktoberrevolution, einst der höchste Feiertag, wurde abgeschafft und durch den «Tag der russischen Einheit» ersetzt.
Die offizielle Geschichtspolitik spricht heute von der «Grossen Russländischen Revolution», die von 1917 bis 1922 gedauert habe. Das halbe Jahrzehnt der Februarrevolution, des Oktoberumsturzes und des Bürgerkriegs erscheint so als vorübergehender krisenhafter Einschnitt in der angeblich «tausendjährigen Geschichte» der russischen Staatlichkeit, die seit 2020 auch in der Verfassung festgeschrieben ist.
Putin arbeitet auf eine Zementierung staatlicher Strukturen hin und fürchtet nichts so sehr wie eine Volkserhebung. Lenin ist für ihn eine negative Figur, weil er das «historische Russland» zerschlagen und den Sowjetföderalismus eingeführt hat. Zur wichtigsten geschichtspolitischen Machtressource ist für Putin die Erinnerung an den Sieg im «Grossen Vaterländischen Krieg» geworden. So heisst der Zweite Weltkrieg in Russland, weil die prekäre Zeit des Hitler-Stalin-Pakts ausgeblendet werden muss.
Putin sieht sich als Anti-Lenin: Er muss die russischen Länder, unter die Lenin «eine Zeitbombe» gelegt hatte und die unter Gorbatschow verlorengingen, wieder sammeln. Am liebsten würde Putin den im Mausoleum auf dem Roten Platz aufgebahrten Revolutionsführer begraben. Er weiss aber genau, dass die ältere Generation immer noch nostalgische Gefühle für Lenin hegt. Was Putin nicht zugibt: Er hat die leninistischen Herrschaftstechniken perfektioniert und damit seine eigene Macht abgesichert.
rib. · Revolutionen prägen die Geschichte und verändern die Welt. Aber wie laufen sie ab? Was braucht es, damit sie ausbrechen? Was macht sie erfolgreich, was bringt sie zum Scheitern? Und welche Nebenwirkungen haben sie? In einer Reihe von Artikeln werden in den kommenden Wochen ausgewählte Revolutionen erzählt und die Frage gestellt, welche Folgen sie hatten. Am 9. August schreibt der Historiker Alexander V. Pantsov über die chinesische Kulturrevolution von 1966.
Ulrich M. Schmid ist Professor für Osteuropastudien an der Universität St. Gallen.
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