SERIE - Die Hölle von Stalingrad war die Tragödie einer Armee – und ist mit der Shoah verflochten


Dem Kriegsberichterstatter Wassili Grossman schien es, als wäre ihm ein Messer in den Leib gerammt worden – so beschrieb er den Anblick der Landkarte im August 1942, die zeigte, wie deutsche Angriffe tiefe Schneisen in die sowjetischen Stellungen in Russlands Süden geschlagen hatten. Es war das zweite Kriegsjahr, vierzehn Monate nach Beginn des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion. Die Rote Armee hatte in der Anfangsphase des Krieges mehr als fünf Millionen Soldaten verloren. Mit Millionen von neu mobilisierten Rekruten gelang es ihr im Dezember 1941, die auf Moskau vordrängenden deutschen Armeen zurückzuschlagen. Nun suchten die Deutschen mit ihrer zweiten Sommeroffensive dem Feind den vernichtenden Schlag zu versetzen.
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Die Operation hatte am 28. Juni mit einem Grossangriff an der russisch-ukrainischen Südfront begonnen und sollte Deutschland in den Besitz von Rohstoffquellen bringen, die Hitler für kriegsentscheidend hielt – die Kohlegebiete vom Donbass und die Ölfelder von Grosny und Baku. Die motorisierten deutschen Truppen kamen rasch voran. Ihre Zangenbewegungen griffen jedoch meist ins Leere, weil sich die Divisionen der Roten Armee rasch zurückzogen und sich so vor der Einschliessung retten konnten.
Im Glauben, dass sich die gegnerischen Truppen bereits auflösten, spaltete Hitler seine angreifenden Verbände in zwei Teile auf. Die Heeresgruppe A sollte geradewegs auf den Kaukasus zustossen, die Heeresgruppe B nach Nordosten abdrehen und Flankensicherung üben. Die Speerspitze in der Heeresgruppe B bildete die 6. Armee von Generaloberst Friedrich Paulus. Unterstützt von italienischen und rumänischen Verbänden, erhielt sie den Auftrag, die Industriestadt Stalingrad an der Wolga zu erobern.
Hitler ging es nicht nur darum, Stalingrad als sowjetische Waffenschmiede auszuschalten und die Wolga zu kontrollieren. Er baute auch auf den psychologischen Schlag, den die Eroberung der Stadt versetzen würde, die den Namen des sowjetischen Diktators trug. Als politischer Kommissar in der Roten Armee hatte Joseph Stalin im russischen Bürgerkrieg erfolgreich die Verteidigung der damals Zarizyn genannten Stadt geleitet und sie zu einem «roten Verdun» erklärt, das sich niemals den konterrevolutionären Angreifern ergeben würde.
1925 wurde Zarizyn in Stalingrad umbenannt und zu einer modernen Industriestadt ausgebaut. Seinen Angriff auf die Stadt stilisierte Hitler nun zu einem Entscheidungskampf zwischen Nationalsozialismus und Bolschewismus. Am 20. August, drei Tage bevor die ersten deutschen Panzer die Vororte von Stalingrad erreichten, notierte Joseph Goebbels in seinem Tagebuch, dass der «Führer» die Stadt «besonders auf Nummer genommen» habe: «Es soll hier kein Stein auf dem anderen bleiben.» Hitler vermutete ferner «eine Million Bolschewiken» in der Stadt, die ebenfalls vernichtet werden sollten. Die Schätzung war übertrieben. Die mit Flüchtlingen aus der Ukraine überlaufene Stadt zählte 650 000 Bewohner, 20 000 von ihnen waren Kommunisten.
«Die Stadt muss gehalten werden. Schluss!»Die sowjetische Führung versuchte mit allen Mitteln die vorrückenden deutschen Panzerverbände zu stoppen. Als Rostow am Don einige Wochen vorher fast kampflos in deutsche Hände gefallen war, hatte Stalin den Befehl Nr. 227, «Keinen Schritt zurück», erlassen. Er tadelte die Rote Armee – ihr Rückzug sei schändlich, das sowjetische Land sei nicht unendlich gross, der Angriff der Deutschen müsse endlich gestoppt werden.
Jeder, der fortan ohne ausdrücklichen Befehl vor dem Feind zurückweiche, sei ein «Vaterlandsverräter» und müsse an Ort und Stelle erschossen werden, befahl Stalin. In Stalingrad, 400 Kilometer östlich von Rostow, sollte dieser drakonische Befehl zur Anwendung kommen. Stalingrad erstreckte sich wie ein Band 40 Kilometer längs des Westufers der Wolga. «Keinen Schritt zurück» bedeutete für die Verteidiger der Stadt, dass es für sie hinter der Wolga keine Rückzugszone gab.
In der Geschichte Europas wurden unzählige Schlachten geschlagen. Sie forderten Millionen von Toten und brachten unermessliches Leid über die Menschen. – Eine Serie von Essays befasst sich mit grossen Schlachten und fragt, wie diese die Geschichte bestimmten. Mit diesem Text beschliessen wir die Artikelfolge.
Während die 4. Deutsche Luftflotte ein Flächenbombardement begann, das weite Teile der Stadt in Schutt und Asche legte, untersagte Stalin den Einwohnern, Stalingrad zu verlassen. «Wohin jetzt noch evakuieren? Die Stadt muss gehalten werden. Schluss!», erklärte er. «Und schlug mit der Faust auf den Tisch.» So beschrieb ein Beobachter die Reaktion des Diktators auf das Ersuchen der Stadtoberen. Erst zwei Tage nach Beginn der deutschen Bombardierung wurde das Evakuierungsverbot für Frauen und Kinder aufgehoben. 40 000 Einwohner kamen bei den zwei Wochen anhaltenden Luftangriffen ums Leben.
Dann traten die deutschen Truppen zum Sturm an. Am 14. September brach ein Regiment in der Innenstadt zur Wolga durch. In den Strassen- und Häuserkämpfen der darauffolgenden Wochen wurden die sowjetischen Verteidiger bis ans Flussufer zurückgedrängt. Die im Steilufer eingegrabene 62. Armee hielt bald nur noch mehrere Brückenköpfe. Sie wurde über den Fluss mit Nachschub an Soldaten und Waffen versorgt. Die Deutschen verfügten über die Lufthoheit und belegten die Wolga mit Beschuss.
Trotzdem gelang es den Angreifern auch im weiteren Verlauf nicht, Stalingrad vollständig in Besitz zu nehmen. Deutsche Beobachter suchten nach Erklärungen für den unerwarteten Widerstand der Sowjets. Eine SS-Zeitung widmete dieser Frage ihren Leitartikel vom 29. Oktober 1942. Er trug den Titel «Das ist der Unterschied».
«Mama, wohin bringen die dich?»Hätten Briten oder Amerikaner die Stadt verteidigt, so das Blatt, wäre Stalingrad binnen kurzem erobert worden. «Ein Mensch, er mag perfide sein wie ein britischer Kolonialschlächter oder verkommen wie ein Gangster aus der Chicagoer Unterwelt, untersteht im Kampf immer noch menschlichen Gesetzen», hiess es da. «Ein Mensch kämpft, solange sein Tun einen erkennbaren Sinn hat.» Nicht so aber der Rotarmist, schloss der Autor des Artikels.
Als Vertreter eines «niederen, dumpfen Menschentums» sei der Rotarmist nicht imstande, «den Sinn des Lebens zu erkennen und das Leben zu schätzen». Von den «jüdischen Kommissaren» in der Führung der Roten Armee zur primitiven Kampfmaschine geformt, wüte sich der Sowjetsoldat, «einmal losgelassen, auf seine Weise in den Tod hinein, fragt nicht nach Sinn und Ziel».
Wassili Grossman, der im September nach Stalingrad eingeflogen war, beschrieb die Schlacht ganz anders. Als Kriegsberichterstatter in den Reihen der 62. Armee, die sich in den Ruinen der Stadt verschanzt hatte, zeichnete Grossman ein hautnahes Bild von den Rotarmisten, mit denen er zwischen den Kampfeinsätzen ausführlich sprach. Er schilderte sie als einfache Menschen mit derber Sprache, aber einem ausgeprägten Bewusstsein dafür, dass sie in Stalingrad ihre Heimat und ihre menschliche Freiheit gegen den Rassenhochmut und die kaltblütige Grausamkeit der Deutschen verteidigten.
Einer von diesen Soldaten war der sibirische Buchhalter Wassili Saizew. Die 284. Schützendivision, in der er diente, wurde am 21. September nach Stalingrad gebracht. Wenig später schon hatte Saizew sich einen Namen als einer der besten Scharfschützen in der Stadt gemacht. Befragt danach, was ihn motiviere, Dutzende von deutschen Soldaten zu töten, verwies Saizew auf die Gewalt der Deutschen, der er aus seinem Unterstand nur tatenlos habe zusehen können.
Im Fabrikbezirk sah er einmal, wie deutsche Soldaten eine Frau wegschleppten, wohl um sie zu vergewaltigen, während ein kleiner Junge verzweifelt schrie: «Mama, wohin bringen die dich?» Saizew fuhr fort: «Oder man sieht, wie im Park an den Bäumen die jungen Mädchen hängen, sie waren noch Kinder – hat das etwa keine Wirkung? Das hat eine ungeheure Wirkung.»
Grossman idealisierte die Rote Armee nicht. Seine Aufzeichnungen machen deutlich, dass die Standhaftigkeit der sowjetischen Soldaten auch Stalins Befehl 227 geschuldet war. Grossman sprach mit Generalleutnant Wassili Tschuikow, dem Kommandeur der 62. Armee, der freimütig bekannte, am 14. September, als die Stadt in die Hände der Deutschen zu fallen schien, vor den angetretenen Soldaten eines Regiments deren Kommandeur und Kommissar erschossen zu haben. Sie hatten ohne Befehl ihren Gefechtsstand verlassen.
Kurz darauf erschoss Tschuikow zwei Brigadekommandeure und die Kommissare, die an das östliche Wolga-Ufer geflohen waren. Diese Exekutionen, so Tschuikow, hätten sofortige Wirkung gezeigt. Grossman wurde auch Zeuge von standrechtlichen Erschiessungen einfacher Soldaten, denen Feigheit vor dem Feind vorgeworfen worden war. Und doch bot diese drakonische Gewalt in seinen Augen keine hinreichende Erklärung für den hartnäckigen sowjetischen Widerstand.
Interne sowjetische Polizeiakten bestätigen Grossmans Beobachtung. Anders als es zahlreiche Darstellungen suggerieren, darunter der Spielfilm «Enemy at the Gates» (2001), dessen Protagonist der fiktive Scharfschütze Wassili Saizew ist, töteten die im Rücken der sowjetischen Front eingesetzten Polizeieinheiten die vor dem Gegner zurückweichenden Rotarmisten nicht wahllos. Die Repressionen in den sowjetischen Truppen waren geringer als oft angenommen. Nicht weil die sowjetische Armeeführung human war, sondern weil sie den Soldaten als kriegswichtige Ressource schützen wollte.
Die sowjetische Gegenoffensive kam für die Deutschen völlig unerwartet. Den Plan hatten Stalins Generäle bereits im September ausgearbeitet: ein von zwei Armeegruppen durchgeführtes tiefes Umfassungsmanöver, deren koordinierte Vorstösse die Soldaten der Wehrmacht und ihrer Verbündeten umzingeln sollten.
Der deutschen Feindaufklärung entging der sowjetische Aufmarsch nicht, doch massen die Nachrichtendienste ihm keine besondere Bedeutung bei, weil sie die Kriegsreserven der Sowjetunion für erschöpft hielten. Mehr als eine Million sowjetische Soldaten beteiligten sich an den Angriffen, die am 19. November 1942 begannen und binnen fünf Tagen zur Einkesselung der 6. Armee führten.
«Drum haltet aus, der Führer haut uns raus!»Der Kommandeur der 6. Armee, Friedrich Paulus, erwog einen Ausbruch seiner eingeschlossenen Truppen. Hitler stellte sich dem entgegen und ordnete an, die «Festung Stalingrad» um jeden Preis zu halten. Eine Luftbrücke sollte die eingekesselten Soldaten mit Nahrung und Munition versorgen. Paulus gehorchte und kabelte an seine eingeschlossenen Soldaten: «Drum haltet aus, der Führer haut uns raus!»
Schlechte Witterung und heftiger sowjetischer Beschuss führten dazu, dass die Versorgung des Stalingrader Kessels aus der Luft lückenhaft blieb. Die anfangs über 300 000 Soldaten im Kessel hatten bald zu wenig Munition und litten an Nahrungsknappheit. Im Dezember versuchten Einheiten der Heeresgruppe A unter Generalfeldmarschall Erich von Manstein, den Ring um Stalingrad von aussen zu sprengen.
Zeitgleich startete die Rote Armee eine Gegenoffensive mit dem Ziel, Rostow zurückzuerobern. Damit sollte die gesamte Heeresgruppe einschliesslich der 400 000 im Kaukasus stationierten Truppen abgeschnitten werden. Manstein brach den Entsetzungsversuch ab und zog die Kaukasusarmee eilends ab. Sie blieb vor der drohenden Einschnürung bewahrt.
Hitler widersetzte sich weiterhin allen Ersuchen seiner Generäle, das Leben ihrer Soldaten in Stalingrad zu schützen. Ein von den Sowjets Anfang Januar unterbreiteter Vorschlag zur ehrenhaften Kapitulation der deutschen Truppen musste zurückgewiesen werden. Als infernalisches Artilleriefeuer aus 7000 Kanonen und Raketenwerfern am 9. Januar die sowjetische Operation «Ring» einleitete, konnten die deutschen Verteidiger, die nicht nur zunehmend an Hunger litten, sondern denen auch Treibstoff und Munition ausgingen, dem Angriff wenig entgegensetzen.
Ende Januar war der Kessel bis auf das Stadtinnere von Stalingrad zusammengeschmolzen. In den Morgenstunden des 31. Januar hatten sowjetische Soldaten der 64. Armee den «Platz der Gefallenen Kämpfer» umstellt. Ein deutscher Offizier gab sich ihnen als Unterhändler zu erkennen und bot Kapitulationsverhandlungen an. Mehrere Rotarmisten wurden in den Keller eskortiert, wo sie auf den versammelten Armeestab der 6. Armee trafen.
In einem der schmutzigen Kellerräume erblickten sie Paulus. Der Armeekommandeur, den Hitler am Vortag noch zum Generalfeldmarschall befördert hatte, lag unrasiert und apathisch auf einer Pritsche. Er war Hitlers impliziter Aufforderung zum Selbstmord nicht nachgekommen, es hiess, ein deutscher Generalfeldmarschall begebe sich niemals in Gefangenschaft. Seinen Offizieren gegenüber erklärte sich Paulus zur Privatperson und signalisierte damit, dass sie an seiner statt die Kapitulation regeln sollten. Mehrere Stunden später legten die deutschen Soldaten im südlichen Stadtzentrum ihre Waffen nieder. In der Traktorenfabrik weiter nördlich wurde noch bis zum 2. Februar gekämpft.
113 000 deutsche und rumänische Überlebende gerieten in sowjetische Gefangenschaft, viele von ihnen verletzt oder stark geschwächt. Insgesamt kostete die Schlacht und die ihr nachfolgende Gefangenschaft fast 300 000 deutschen Soldaten das Leben. Auf der Gegenseite verloren bei der Verteidigung von Stalingrad und der sich ihr anschliessenden Offensive nach konservativen Schätzungen knapp 500 000 Rotarmisten das Leben. Möglicherweise lag die Zahl der Toten noch viel höher.
Die nationalsozialistischen Machthaber antworteten auf den Untergang der 6. Armee mit vermehrter Propaganda und Massenmobilisierung. Nach einer dreitägigen Staatstrauer wandte sich der Propagandaminister Joseph Goebbels an die verunsicherte Nation. In der vollbesetzten Arena des Berliner Sportpalasts, in der verwundete Soldaten von der Ostfront in den ersten Reihen sassen, rief Goebbels alle Deutschen zum «totalen Krieg» auf.
Goebbels machte klar, wem dieser Krieg galt: nicht nur den anstürmenden Sowjetdivisionen, sondern auch den dicht hinter ihnen folgenden «jüdischen Liquidationskommandos», das heisst den Kommissaren in der Roten Armee, die angeblich vorhatten, Millionen von Deutschen mit Genickschuss umzubringen. Das «Judentum» sei der Aggressor in diesem Kampf, so Goebbels, und gegen diese jüdische Bedrohung werde Deutschland mit den «radikalsten Gegenmassnahmen» antworten. Nur so könnten Deutschland und Europa in diesem Existenzkampf bestehen.
Der unverhohlene Aufruf, die Ermordung der Juden noch energischer voranzutreiben, wurde von der aufgepeitschten Menge im Sportpalast mit frenetischem Beifall begrüsst. Goebbels’ Appell wurde weit über die Mauern des Berliner Sportpalastes hinausgetragen. Angehörige von in Stalingrad vermissten Soldaten schrieben Kettenbriefe an die Familien anderer «Stalingrader», in denen sie alle Deutschen dazu aufforderten, sich an den «sechs bis sieben Millionen Juden in unseren Händen» zu rächen, sollten Moskaus «jüdische Machthaber unseren gefangenen Soldaten Schaden zufügen». Das von den Nationalsozialisten beschworene Fanal von Stalingrad zeigte Wirkung. Der Krieg tobte zwei Jahre weiter. Mit noch grösserer Intensität.
Die Verflechtungen zwischen Stalingrad und der Shoah sind in der Nachkriegszeit vielfach übersehen worden. In der westdeutschen Forschung hielt sich lange Zeit das Bild einer von Hitler im Stich gelassenen, aufrechten 6. Armee. Stalingrad wurde häufig als eine deutsche Tragödie geschildert, deren drei Akte eine erfolgreiche Fernsehproduktion in drei Folgen sendete: «Der Angriff, der Kessel, der Untergang».
«Jude kaputt!»Erst die Initiatoren der vielbeachteten Ausstellung über die «Verbrechen der Wehrmacht», die ab 1995 durch deutsche Städte tourte, lenkten den Blick auf die «Blutspur der 6. Armee». Einheiten dieser Armee hatten dem Massenmord von Juden in der Schlucht von Babi Jar bei Kiew im September 1941 zugearbeitet. Wenig später hatte der erste Oberbefehlshaber der 6. Armee, Generalfeldmarschall Walter von Reichenau, in einem Befehl das «jüdische Untermenschentum» als den deutschen Hauptfeind «im Ostraum» ausgemacht.
Um ihrer «geschichtlichen Aufgabe» gerecht zu werden, «das deutsche Volk von der asiatisch-jüdischen Gefahr ein für alle Mal zu befreien», müssten seine Soldaten auch Aktionen durchführen, «die über das hergebrachte einseitige Soldatentum hinausgehen». Dass der deutsche Vorstoss auf Stalingrad auch mit der Einsetzung von Besatzungsbehörden einherging, die in Stalingrad Kommandanturen errichteten, Kommunisten und Juden erschossen und die Deportation der Zivilbevölkerung in die Wege leiteten, ist bis heute wenig bekannt.
Dabei hatte Wassili Grossman diese Zusammenhänge bereits im Krieg deutlich benannt. Im Januar 1944 erreichte er mit Einheiten der Ersten Ukrainischen Front das Schtetl Berditschew westlich von Kiew. Grossman war Jude und Berditschew sein Geburtsort. Im Sommer 1941 wollte er seine Mutter noch aus Berditschew evakuieren lassen, doch die Deutschen kamen ihm zuvor. Seitdem hatte er nichts mehr von ihr gehört.
In Berditschew wurde Grossmans Ahnung, dass seine Mutter nicht mehr lebte, zur Gewissheit. Die wenigen jüdischen Überlebenden, mit denen er sprach, schilderten die schrecklichen Ereignisse. Mit den Rufen «Jude kaputt!» waren die Soldaten der 6. Armee in die Stadt einmarschiert, dann vertrieben sie die jüdischen Einwohner in ein eingezäuntes Ghetto. Am 15. September 1941 wurden 12 000 von ihnen ausserhalb der Stadt erschossen. Weiteren «Aktionen» fielen fast alle Juden von Berditschew zum Opfer.
Am 21. Juli 1944 überschritt die Rote Armee die Grenze nach Polen, wenige Tage später erreichte sie Treblinka. Das gewaltige Vernichtungslager war auf Geheiss des SS-Führers Heinrich Himmler zerstört worden, damit den Sowjets keine Beweise für die Massenverbrechen der Deutschen in die Hände fielen. Doch Grossman, der zu den ersten Rotarmisten gehörte, die das überwucherte Lagergelände betraten, machte sich sofort an die dokumentarische Arbeit.
Himmler reist nach TreblinkaAufbauend auf forensischen Untersuchungen und Gesprächen mit den wenigen Überlebenden und anderen Augenzeugen, entstand sein verstörender Bericht über die Todesmaschinerie: «Die Hölle von Treblinka». Grossmans Bericht enthielt vielfache Hinweise auf Stalingrad. Treblinka, so betonte er, habe die meisten Opfer im Herbst 1942 verschlungen, als Hitler Europa beherrschte und um den Besitz von Stalingrad kämpfte.
«Die ganze Welt schweigt», schrieb Grossmann im Bericht, niedergedrückt und geknechtet von der braunen Räuberbande, die die Macht an sich gerissen hat. London ist still und New York auch. Und nur irgendwo, viele tausend Kilometer weit, donnert an einem fernen Wolga-Ufer die Sowjetartillerie.» Der Verweis auf London und New York enthielt eine deutliche Kritik an die Westalliierten, die ihr im Juni 1942 gegebenes Versprechen, eine zweite Front in Europa zu bilden, erst zwei Jahre später mit der Landung in der Normandie einlösten.
Der von der Roten Armee weitgehend allein errungene Sieg bei Stalingrad, so die Schlussaussage von Grossmans Essay, markierte den Ausgangspunkt der Befreiung der Menschheit vom Faschismus. Von einem gefangen genommenen Wachmann erfuhr Grossman, dass Himmler im Februar 1943 nach Treblinka gekommen war und angeordnet hatte, alle Opfer zu exhumieren und zu verbrennen. Was mochte den SS-Chef zu dieser Tat bewogen haben, fragte sich Grossman und gab sich selbst die Antwort: «Es gab nur einen Grund, den Sieg der Roten Armee bei Stalingrad.»
Die Schlacht von Stalingrad war ein geschichtlicher Wendepunkt: Sie störte die nationalsozialistische Tötungsmaschinerie und brachte sie letztlich zum Einhalt. Doch auch als Vielvölkerschlacht nimmt Stalingrad eine Sonderstellung ein. Auf der Seite der Wehrmacht standen Italiener, Rumänen, Ungarn und Kroaten, während in der Roten Armee Russen, Ukrainer, Weissrussen, Tataren, Kasachen und Soldaten vieler anderer Völkerschaften Seite an Seite kämpften.
Die deutschen Militärs und nach ihnen viele deutsche Historiker beschwerten sich immer wieder über die schlechten Verbündeten der Wehrmacht, deren mangelhafter Kampfgeist die Einschliessung der 6. Armee herbeigeführt habe. In Verhören mit Offizieren der Roten Armee klagten kriegsgefangene Rumänen, Ungarn und Österreicher ihrerseits über den Rassendünkel der Deutschen.
Unweit der Grenze zu Asien gelegen, eignet sich die 1961 in Wolgograd umbenannte Stadt Stalingrad als Fluchtpunkt für eine übergreifende europaweite Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg. Nur stellt sich heute die Frage, ob und wann genügend Europäer sich dieser Bedeutung bewusst werden.
Jochen Hellbeck ist Historiker und lehrt an der Rutgers University, New Jersey, osteuropäische Geschichte. Soeben ist im S.-Fischer-Verlag sein Buch «Ein Krieg wie kein anderer. Der deutsche Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. Eine Revision» erschienen.
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