Mehr Grandezza im ICE

Natürlich ist das ein ganz jämmerlicher Versuch, dem Bahnfahren eine gewisse Grandezza anzudichten. Im Bordbistro der Bahn gab es neulich Tomatensaft. Einen Drink mit Botschaft. Ein Hochgefühl, ein Über-den-Wolken-Flair. Es ist eine sehr durchschaubare Idee, auf der Luxuslinie mitzufliegen. Ich begrüße das trotzdem. Wenn der Zug einfährt, stehe ich immer zielsicher im Bistroabschnitt. Es ist der Ort, der mich mit der Deutschen Bahn versöhnt hat.
Warum Leute einen Sitzplatz reservieren, um mit dem Kopf in einer stinkenden Sitzreihe zu verschwinden, verstehe ich nicht. Zumal genau diese scheinbare Abgetrenntheit dazu führt, dass sich im Zug alle benehmen wie auf der Couch: Sie schlabbern Nachos, trommeln dann mit den abgeleckten Fingerkuppen auf dem Ausklapptischchen herum, schlecken nach dem nächsten Nacho mit gestockter Käsesauce wieder über die Finger. Berühren mit ihren nackten Armen die Rückenlehne, fingern Jalapeñoringe zwischen den Sitzen hervor, um sie auch noch in den Mund zu schieben. Sie ziehen die Wanderschuhe aus, reinigen die Trekkingstöcke, schauen Filme ohne Kopfhörer, zupfen Augenbrauen, pulen den Dreck unter den Fingernägeln weg.
Sie merken schon, Verspätungen sind nicht mein Hauptproblem mit der Deutschen Bahn.
Und dann gibt es den einen Ort im Zug, an dem es gesitteter zugeht als in der ersten oder zweiten Klasse: das Bordbistro. Es scheint, als würden die Menschen hier auch die Minimalstandards des Zusammenlebens eher einhalten können. Immerhin sitzt man in einem Restaurant. Da danke ich oft in Gedanken jenen Eltern oder Großeltern, die beim Sonntagsausflug im Restaurant jene Ehrfurcht anerzogen haben. Machte man sich dafür nicht schick, aß man nicht besser als zu Hause? Mit Messer und Gabel, kein Rülpsen, keine Kraftausdrücke, gerade sitzen, und am Ende: »Danke für die Einladung.« Ins Bordbistro der Deutschen Bahn hat es dieser alte Respekt nicht geschafft, aber Restanteile davon. Hier werden weder die Schuhe ausgezogen noch die Füße hochgelegt, kein Nasekratzen, Pulen, Schorfversorgen. Kein Geschrei, kein »Uno«-Turnier, kein Klettern über Sitze, kein stundenlanges Führen von Privatgesprächen per Telefon. Kurz: Die meisten verhalten sich restaurantentsprechend. Auch das Ambiente ist netter: Panoramafenster, uneingeschränkter Blick, ein höfliches Gespräch mit dem Nachbarn, aber auch die Notwendigkeit, damit wieder aufzuhören, schließlich sind beide beim Essen.
Auf schöne Art wandelt sich das Bordbistro auch je nach Uhrzeit. Morgens geschäftig, mittags zünftig, nachmittags mehr Kaffee-und-Kuchen-Gäste, und abends wird es manchmal zu einer netten Kneipe. Viele fahren nach Hause, noch ein Bier, jeder Stopp eine Zigarettenpause, und sollten sich neue Sitzgruppen ergeben, kann man auch noch mal hochschalten mit Gin Tonic. Wann hat einen schon mal ein Bar-Besuch weitergebracht? Hier! Spätestens wenn sich der Kellner und die Kellnerin dazusetzen, weil alles getan ist, aufgeräumt, abgewaschen, die Kasse zu, wirkt mal alles in Ordnung bei der Deutschen Bahn: noch dreißig Minuten Fahrt, die Gläser halb voll. Darf man sich im Bordbistro verlieben?
Tomatensaft? Ich finde es sollte noch viel weitergehen – Marketing hin oder her: Warum nicht nach dem Tomatensaft, der eine gewisse Flughöhe vermittelt, auch noch ein Vitello tonnato oder eine Pasta alle vongole oder einen Rosé auf Eis? Was auch helfen könnte: Tischdecken, vielleicht eine Kerze auf jedem Tisch, ein Weinkühler, ein paar Streicher. Mehr Grandezza, weniger Trekkingsocken.
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