Schlussakkord: Zum Tod des Pianisten Alfred Brendel

"Friedlich" und "umgeben von seinen Angehörigen" starb der gebürtige Österreicher am Dienstag in London. Berühmt war er unter anderem für seine Interpretationen der Werke von Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert, Brahms und Liszt. Schon zu Lebzeiten eine Legende, galt er als äußerst bescheiden, zurückhaltend und selbstkritisch. Mit ihm verlässt ein ganz Großer - Kritiker sprechen von einem "Genie an den Tasten" - die Konzertbühne.
Von seinem Publikum hatte Brendel sich schon im Dezember 2008 verabschiedet. "Sechzig Jahre Spielen in der Öffentlichkeit reichen aus", erklärte er damals lapidar - und setzte bescheiden hinzu: "Es wäre schön, wenn die eine oder andere meiner Aufnahmen auch in Zukunft ihre Hörer fände."

Kurz danach erlitt er einen Hörsturz, konnte Töne nur noch verzerrt wahrnehmen. Er hörte auf zu üben, gab kaum noch Interviews. Doch äußerlich ließ sich Brendel nichts anmerken. Er wirkte fit und jünger als er war. So nahm er 2016 beschwingt den Echo Klassik entgegen. Mit dem renommierten Musikpreis würdigte die Deutsche Phono-Akademie das Lebenswerk des Ausnahmemusikers.
Brendel: "Philosoph am Klavier"Brendel begeisterte vor allem mit seiner einzigartigen Spielweise. Kritiker priesen die Leichtigkeit und Souveränität seines Anschlags. Zugleich spielte Brendel stets präzise und seriös.
Er sah auch schon aus wie der "Philosoph am Klavier": Hager, lang gewachsen und mit dicker Hornbrille – so gab sich Brendel, mit sparsamer Körpersprache und auffälliger Bescheidenheit, als ein Diener der Komponisten. Doch war er, wie die Londoner Zeitung "The Guardian" einmal lobte, nie der "passive Befehlsempfänger" oder, wie die "Süddeutsche Zeitung" schrieb, keinesfalls ein "Lordsiegelbewahrer der Klassik".

Ganz im Gegenteil: "Ich fühle mich oft als Charakterdarsteller", sagte Alfred Brendel 2002 in einem Interview mit der Deutschen Welle. "Ich möchte mich - soweit es geht - verwandeln." Er vertraute also nicht blind auf den Notentext. Vielmehr lieferte er seine eigene, unverwechselbare künstlerische Handschrift ab. Warum das so war, auch darauf gab der Musiker eine noch heute überraschende Antwort: "Die Jahre, die ich unter der Naziherrschaft verbrachte, haben mich immun gegen blindes Vertrauen gemacht."

So wurden die Töne, die er auf Schallplatten und mehr als 100 CDs festhielt, für Generationen von Musikern und Musikliebhabern prägend. Brendel intonierte "Musik, die nicht gespielt wird, sondern einfach selbständig geschieht", womit er auf die Musizierweise seines Lehrers Edwin Fischer und des von ihm verehrten Dirigenten Wilhelm Furtwängler abhob. Doch eben das nahm er auch für sich und sein eigenes Lebenswerk in Anspruch.
Kosmopolit auf der KonzertbühneGeboren wurde Alfred Brendel am 5. Januar 1931 in Nordmähren, damals noch Österreich, heute Tschechisch Republik. Der Junge mit deutschen, österreichischen, italienischen und slawischen Wurzeln wuchs an der Adriaküste im heutigen Kroatien auf. Schule in Zagreb, Studium am Konservatorium in Graz, Umzug nach Wien 1950, Übersiedlung nach London 1970: "Ich bin nicht jemand, der Wurzeln sucht oder braucht", sagte Brendel einmal. "Ich möchte so kosmopolitisch wie möglich sein. Ich ziehe es vor, zahlender Gast zu bleiben. Das ist eine Lektion, die ich im Krieg gelernt habe."
Erstes Konzert mit 17 Jahren, kurz darauf Gewinn des Busoni-Wettbewerbs in Bozen, später jahrzehntelange, weltweite Konzerttätigkeit. Die Ernte: drei Ehrendoktortitel in London, Oxford und Yale, ungezählte Preise, darunter der "Ernst von Siemens" und der "Herbert von Karajan"-Preis, Auszeichnungen für sein Lebenswerk bei den "MIDEM Classical Awards" in Cannes, bei den "Edison Awards" in Holland - und schließlich 2016 beim ECHO Klassik: Wohl kaum ein Pianist wurde mit Preisen und Auszeichnungen bedacht wie Alfred Brendel.

Brendel war auf sämtlichen Konzertbühnen der Welt zuhause. Und doch verfasste er, was wenige wissen, auch zahlreiche Gedichte und Essays und veröffentlichte Bücher. So erschien sein Wichtigstes 2015 - "Music, Sense and Nonsense" (Musik, Sinn und Unsinn), in dem er eine beredte Bilanz seines musikalischen Lebens zog.
Einige wenige KomponistenAlfred Brendel, soviel ist gewiss, war ein Künstler mit einem breiten Horizont. Dennoch wusste er genau, welche Musik ihn interessierte. Als erster Pianist nahm er das komplette Klavierwerk Ludwig van Beethovens auf. Er profilierte sich als "der" Schubert-Interpret. Haydn, Mozart, Liszt, Busoni und Brahms gehörten ebenfalls zu seinen Lieblingskomponisten. In späteren Jahren beschränkte sich Brendel dann aber auf einige wenige - aus gutem Grund, wie er im DW-Interview 2002 erklärte: "Wenn man die richtigen Stücke spielt, mit denen ein Leben zu verbringen sich lohnt, dann sind das Kraftquellen, die ständig neue Energie aussenden und die Kräfte des Spielers regenerieren."

Kurz bevor Alfred Brendel am 18. Dezember 2008 zusammen mit seinem Sohn, dem Cellisten Adrian Brendel sein letztes öffentliches Konzert gab, hatte der Pianist noch Beethovens Cellosonaten aufgenommen. Was ihm nach seiner Konzertkarriere am meisten fehlen werde? "Das Adrenalin", antwortete er und fügte hinzu: Trotz der ständigen "widerwärtigen"Husterei und der klingelnden Handys auch das Publikum.
Bis zuletzt reiste Brendel durch die Welt, hielt Vorträge zu musikhistorischen und philosophischen Themen, las aus seinen inzwischen elf Büchern oder trug eigene Gedichte vor. Seit den 1970er Jahren lebte der in zweiter Ehe verheirate Familienvater in London, wo er sich und seiner Familie im Stadtteil Hampstead ein Häuschen eingerichtet hatte, gefüllt mit Musikalia, jeder Menge Bildern, Büchern und Schallplatten. Hier setzte Alfred Brendel jetzt im Alter von 94 Jahren, den Schlussakkord seines außergewöhnlichen Musikerlebens.
dw