Europa in der Trump-Putin-Klemme: Wohin steuert der Kontinent nach der Abkehr der USA?
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Brüssel. Mit Charme und taktischem Geschick im Gepäck reiste Frankreichs Präsident Emmanuel Macron nach Washington, um die neuen Spannungen zwischen den USA und Europa zu entschärfen. Gut gelaunt saß der Franzose im Oval Office neben US-Präsident Donald Trump und setzte auf seine bewährte Taktik: „Wir sind persönlich befreundet“, erklärte Macron mit einem vielsagenden Grinsen und einem Seitenblick auf Trump. Als Freund sei er nach Washington gekommen.
Im Weißen Haus versuchte der selbst ernannte Trump-Flüsterer aus Paris, den früheren Showmaster an seiner Eitelkeit zu packen – und die große Politik „unter Freunden“ zu regeln. Ein Gespräch unter Männern, die auf der Weltbühne keine Schwäche zeigen dürfen. Nicht gegen Russland, nicht gegen China. Ist Macron Europas neuer Mittelsmann im Oval Office?
Erst wenige Monate zuvor hatte Trump mit seiner Gattin die Gastfreundschaft der Macrons in Frankreich genossen. Noch immer schwärmt der Republikaner vom Besuch der restaurierten Notre-Dame und dem exklusiven Dinner mit dem Franzosen. Er habe eine „ganz besondere Beziehung zu Frankreich und zu diesem Gentlemen zu seiner Rechten“, schwärmte der US-Präsident über Macron in dieser Woche.
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Feierlicher Termin: Donald Trump (Mitte) kommt Ende des vergangenen Jahres zur Eröffnung von Notre-Dame nach Paris.
Quelle: IMAGO/ABACAPRESS
Macron nutzte diesen Moment und wagte es, Trump entschieden zu widersprechen, als dieser behauptete, Europa hätte der Ukraine nur Kredite gewährt. Sanft legte der Franzose seine Hand auf das Handgelenk des US-Präsidenten und korrigierte ihn: „Nein, um ehrlich zu sein, wir haben alles bezahlt.“ 60 Prozent aller Hilfen seien von Europa gekommen. Für einen Moment wirkte Trump regelrecht verblüfft.
Doch Macron ist nicht der Einzige mit einem Ticket nach Washington. In diesen Tagen geben sich europäische Spitzenpolitiker die Klinke in die Hand. Binnen weniger Wochen hat Trump die jahrzehntelange Allianz zwischen den USA und Europa ins Wanken gebracht. Der Ukraine droht nun sogar, die essenzielle US-Hilfe im Kampf ums Überleben zu verlieren. Trump dringt auf einen schnellen Deal mit Putin – mit empfindlichen Zugeständnissen aus Kiew.
Margus Tsahkna
, Estlands Außenminister
Die Verhandlungen mit Putin betreffen direkt Europas Sicherheit. Der Kremlchef will nicht nur ukrainisches Territorium erobern, sondern die gesamte europäische Sicherheitsarchitektur neu ordnen, warnt Estlands Außenminister Margus Tsahkna im Interview mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Putin möchte die Präsenz der Nato in der Region beenden, aber die ist für unsere Sicherheit von grundlegender Bedeutung.“
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Blickt mit Sorge auf das Treffen von Trump und Putin: Estlands Außenminister Margus Tsahkna.
Quelle: picture alliance / ZUMAPRESS.com | Attila Husejnow
Der Außenminister befürchtet, dass Trump den russischen Machthaber aus der Isolation des Westens befreit und rehabilitiert. „Trump scheint die Verbrechen, die Putin in der Ukraine begangen hat, nicht sehr ernst zu nehmen“, sagte Tsahkna. Europa dürfe nicht zulassen, dass Trump die Geschichte während eines schnellen Deals umschreibe. Mit Sorge blickt er auf das angekündigte Treffen zwischen Trump und Putin, bei dem „zwei Präsidenten auf Augenhöhe“ verhandeln dürften. Aus seiner Sicht ein schwerer Fehler. Doch alles deutet darauf hin, dass Russland seinen Weg als Großmacht zurück auf die große Bühne findet.
Gesine Weber
, Expertin für EU-Verteidigungspolitik
In der EU mehren sich die Stimmen, die warnen, dass Trump, Putin und Xi die Welt unter sich aufteilen könnten. Welchen Platz hat Europa in der neuen Weltordnung? „Europa spielt nicht in einer Liga mit Großmächten mit den USA, China und Russland, sondern kann eher eine einflussreiche Mittelmacht sein wie Saudi-Arabien, Indien oder die Türkei“, sagt die Expertin für EU-Verteidigungspolitik, Gesine Weber, vom German Marshall Fund (GMF).
Aber es geht um weit mehr als politische Machtspiele. Ob US-Truppen, amerikanische Waffensysteme und der US-Nuklearschirm Europas Sicherheit weiterhin garantieren, steht auf der Kippe. Trump hat Zweifel gesät, ob die USA ihre Nato-Verbündeten im Ernstfall noch verteidigen würden. „Das Fundament der europäischen Sicherheit bröckelt bereits“, warnt Weber. Eine Folge von Trumps Annäherung an Russland: Die USA überdenken bereits ihre Truppenstationierung, ein teilweiser Rückzug könnte bevorstehen. Die Frage ist nun: Kann und will Europa seine Abschreckung selbst in die Hand nehmen?
Hinter den Kulissen der EU-Institutionen werden bereits Szenarien durchgespielt, ob Europa eine eigenständige Sicherheitspolitik überhaupt umsetzen kann. Als bestes Szenario wird in Brüssel noch darauf gehofft, dass die USA nur einen Teil der Bodentruppen abziehen, der nukleare Schutzschirm aber bleibt. Das schlimmste Szenario? Ein schutzloses Europa gegenüber einer hochgerüsteten Nuklearmacht Russland, das von Moskau noch dazu nuklear erpresst werden könnte. Und niemand schließt dieses Szenario mehr kategorisch aus.
Derzeit weigerten sich die Europäer noch, die eigene Verteidigung nicht mit weniger, sondern ganz ohne die USA zu denken, so Sicherheitsexpertin Weber. Es müsse ein Paradigmenwechsel in den Köpfen her. Klar sei aber: „Ob Friedenstruppe oder Sicherheitsgarantien, eine echte Abschreckung ist ohne die USA kurzfristig nicht möglich.“ Europa könnte nukleare Verteidigung europäisch denken und die französischen und britischen Nuklearwaffen in die Strategie einbeziehen. Ihre Wirkung wäre aber weit geringer als die der US-Nuklearwaffen, da sie eher auf strategische Ziele abzielen als auf umfassende Abschreckung. „Damit geht ein großer Teil der europäischen Abschreckungsfähigkeit verloren“, sagt Weber.
Die Aussicht, in einigen Monaten weitgehend ohne amerikanischen Rückhalt dazustehen, ist keine bloße Spekulation. „Man kann nicht davon ausgehen, dass die Präsenz der USA ewig andauern wird“, drohte US-Verteidigungsminister Pete Hegseth am Rande seines Europabesuchs unmissverständlich.
Pete Hegseth,
US-Verteidigungsminister
Die Konsequenzen wären gewaltig – und teuer: Wenn sich Europa ohne Unterstützung der USA gegen Russland verteidigen muss, kostet das Investitionen von rund 250 Milliarden Euro jährlich, so eine Analyse des Brüsseler Thinktanks Bruegel und des Kiel Instituts für Weltwirtschaft (IfW Kiel). 50 zusätzliche Brigaden mit insgesamt 300.000 Soldaten seien nötig, ebenso wie 1400 neue Kampfpanzer und 2000 Schützenpanzer. „Ökonomisch ist das zur Wirtschaftskraft der EU relativ überschaubar, die zusätzlichen Kosten liegen nur bei circa 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der EU“, sagt Guntram Wolff vom IfW Kiel. Weit weniger als etwa zur Krisenbewältigung während der Covid-Pandemie.
Die Autoren der Studie schlagen eine Erhöhung der europäischen Verteidigungsausgaben von derzeit 2 Prozent auf 3,5 bis 4 Prozent der Wirtschaftskraft jährlich vor. So wäre eine Gesamtsumme von zusätzlichen 250 Milliarden Euro pro Jahr möglich. Kaum realisierbar scheint dagegen, 300.000 zusätzliche Soldaten zu rekrutieren und auszubilden.
Die Europäische Union zeigt sich perplex über das Tempo und den Alleingang, mit dem Donald Trump die Sicherheitsarchitektur Europas umgestaltet – ohne Rücksprache mit den Betroffenen. Diplomaten rätseln, ob die USA überhaupt eine durchdachte Strategie für die Ukraine – geschweige denn für Europa – verfolgen. Nervös beäugt man die widersprüchlichen Signale aus Washington. Niemand weiß, worauf man sich wirklich verlassen kann. Hochrangige Diplomaten beklagen, dass die Botschaften der handverlesenen Minister und Sonderberater Trumps chaotisch und oft unkoordiniert wirken. Einige Akteure bezeichnet man hinter vorgehaltener Hand gar als „inkompetent“.
Unklar bleibt auch, auf wessen Rat Trump am Ende tatsächlich hört. Die Europäer mussten diese Lektion bereits während seiner ersten Amtszeit schmerzhaft lernen: Vereinbarungen mit seinen Beratern hatten oft eine kurze Halbwertszeit, weil der Präsident sie später einfach verwarf.
Deshalb wollen die Europäer direkt mit dem neuen Dealmaker im Weißen Haus verhandeln – doch wer schmiedet für Europa die Deals? Frankreichs Präsident Emmanuel Macron würde diese Rolle nur zu gern übernehmen. Als entschiedener Befürworter einer europäischen strategischen Autonomie dringt er auf eine stärkere Rolle der Europäer in Sicherheitsfragen. In seinem Eifer berief er kurzfristig zwei Gipfeltreffen – eines für die großen, eines für die kleineren EU-Staaten – ein, um die Regierungschefs hinter sich zu versammeln. Doch ein Mandat für Verhandlungen mit dem US-Präsidenten bekam er nicht.
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Beste Beziehungen: Anfang Januar empfängt Trump die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni in seinem Anwesen Mar-a-Lago in Florida.
Quelle: IMAGO/ZUMA Press
Stattdessen lösten die beiden Treffen Frust und Streit aus und endeten ohne ein handfestes Ergebnis in einem Desaster. Griechenlands Premier Kyriakos Mitsotakis zeigte sich erzürnt, weil er sich beim ersten Treffen der „großen“ Länder übergangen sah. Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni wiederum war auf Macron wütend, da sie sich selbst als die natürliche Ansprechpartnerin Trumps sieht. „Er hat ihr die Show gestohlen“, heißt es in EU-Kreisen.
Macron ist den Gegenwind gewohnt. Immer wieder wurde er für seine Forderung kritisiert, Europa müsse unabhängiger von den USA werden. Doch nun sieht er sich bestätigt. „Heute sind sich die Europäer einig, dass Macron recht hatte. Macron sieht sich jetzt als legitimer Verhandlungspartner gegenüber Trump“, so GMF-Expertin Weber. Sie verweist darauf, dass Trump Macron bereits aus seiner ersten Amtszeit kenne. „Und Trump liebt einen Politikstil, in dem Männer unter sich verhandeln“, fügt sie hinzu.
Nun wagen die EU-Staaten einen neuen Anlauf: Bei einem offiziellen Sondergipfel am 6. März will EU-Ratspräsident Antonio Costa eine gemeinsame Linie und handfeste Ergebnisse für den Umgang mit den US-Friedensverhandlungen und Europas Rolle beschließen. Erste Vorbereitungen laufen bereits: Am Mittwoch setzte Costa eine kurzfristige Videokonferenz mit allen EU-Staaten an, damit Macron vertrauliche Einblicke in sein Gespräch mit Trump geben kann. Ein Vorschlag steht im Raum: Europa könnte einen Sondergesandten für die Ukraine ernennen, der stellvertretend mit Trumps Team verhandelt. Auch Vertreter außerhalb der EU, wie der britische Premier Keir Starmer, sollen ins Boot geholt werden.
Starmer wird an diesem Donnerstag Trump treffen und will ihn von umfangreichen US-Schutzgarantien für die Ukraine überzeugen. Denn für die Europäer steht fest: Ohne militärische Unterstützung der USA droht der Ukraine womöglich ein erneuter Angriff Russlands. Die Frage bleibt nur, ob Trump sich überzeugen lässt.
rnd