Regierungsfehlstart bei Miosga: "Große Diskrepanz zwischen Wahlkämpfer Merz und Kanzler Merz"

Die Talkrunde bei "Caren Miosga" analysierte das angekratzte Vertrauen in Friedrich Merz.
(Foto: NDR/Thomas Ernst)
Wahl-Schmach, Migrationsstreit, Russland: Bundeskanzler Friedrich Merz ringt um Vertrauen. In der ARD-Politshow "Caren Miosga" gerät sein Kanzleramtschef Thorsten Frei ins Schwimmen - und wird mit einem "Führungsproblem" konfrontiert.
Nachdem Friedrich Merz seine ersten Auslandsbesuche absolviert hat, muss sein Kanzleramtschef bei "Caren Miosga" noch einmal die Bilder von der Schmach im ersten Wahlgang in der vergangenen Woche ansehen. Thorsten Frei muss seinen Chef verteidigen, der unter Druck steht, bevor es überhaupt losgeht. Die ARD-Talkshow erkennt einen "Fehlstart" von Merz und ein bereits angekratztes Vertrauen in den neuen Kanzler und seine Koalition - trotz positiver Bilder eines gemeinsamen, starken Europas bei Merz' Auftritt in Kiew.
Frei bleibt in der Sendung am Sonntagabend äußerlich ruhig, gerät aber das erste Mal in unsicheres Fahrwasser, als er sich dafür rechtfertigen muss, dass in der neuen Regierung wohl nicht allen die Rahmenbedingungen bei der erfolglosen Kanzlerwahl im ersten Wahlgang klar waren. "Angesprochen" habe man im Vorlauf, dass ein zweiter Wahlgang komplizierter wäre, sagt der Kanzleramtschef. "Es spricht aber viel dafür, dass es nicht alle auf dem Schirm hatten."
Das angekratzte Vertrauen in die Regierung, so argumentiert Talkmasterin Caren Miosga, geht außerdem mit enttäuschten Wählerinnen und Wählern einher, die Merz immer noch Wortbruch beim Thema Schuldenbremse und Investitionspaket vorwerfen. "Das war kein Wortbruch, wir mussten sehr flexibel auf eine sehr spezielle Situation reagieren", verteidigt Frei seinen Boss. Und verweist auf die Rede von US-Vizepräsident JD Vance bei der Münchner Sicherheitskonferenz und die Demütigung von Wolodymyr Selenskyj durch Donald Trump im Oval Office.
Bei der Migration muss Merz nun liefern"Man kann aber nicht sagen, dass die Rede von JD Vance die deutschen Brücken und Straßen kaputter gemacht hat", wirft Armin Nassehi mit einem Augenzwinkern ein, weil das riesige Investitionspaket der Koalition eben nicht nur auf die Verteidigung, sondern auch auf die deutsche Infrastruktur abzielt. Der Professor für politische Soziologie kreidet an, dass bei der CDU oftmals "kein klares Konzept" hinter den Handlungen steckt. Das bräuchten die Leute aber, denn sie "merken, dass die starken Sätze mit der Wirklichkeit brechen". Nassehi erkennt einen allgemeinen Vertrauensverlust, viele in Deutschland "vertrauen keiner der Parteien".
"Zwischen dem Wahlkämpfer Merz und dem Kanzler Merz besteht eine große Diskrepanz", sagt Kerstin Münstermann. Es geht um das nächste Thema, bei dem Merz dieser Tage an Vertrauen einbüßt: Migration. Die Leiterin des Parlamentsbüros der "Rheinischen Post" findet es "fast lustig", wie markig die Worte von Merz klangen und "jetzt traut er sich gar nicht mehr umzusetzen, was er angekündigt hat". Nach dem angekündigten faktischen Einreiseverbot habe der Kanzler zurückgerudert, nachdem es in Polen und Brüssel Gegenwind gab.
Aber auch Merz' Aussage, dass nun an den Grenzen kontrolliert würde wie bei der EM im vergangenen Sommer, "stimmt nicht, denn es wird zurückgewiesen", sagt Münstermann. Der Kanzler müsse nun liefern und zeigen, wie die Zahlen an den Grenzen wirklich zurückgehen können. "Das Thema Migration bedarf noch Aufarbeitung in der Regierung", urteilt die Journalistin. Sie hält etwa die Verstärkung der europäischen Außengrenzen, vor allem der polnischen zu Belarus, für sinnvoller.
Bei Kompetenz "Luft nach oben"Nassehi erkennt sogar "ein Führungsproblem". Merz' Ankündigungen bei Thema Migration seien viel stärker gewesen als das, was man wirklich umsetzen könne und "unterminieren das Vertrauen in ihn noch einmal", so der Soziologe. Die demokratischen Parteien würden sich zu selten zusammensetzen, um echte Lösungen zu erarbeiten, anstatt "große Sätze" herauszuposaunen. Denn man dürfe ruhig hinterfragen, ob geschlossene Grenzen überhaupt gut sind. Die Zahlen der Asylsuchenden gingen ohnehin zurück und die CDU brauche ein Konzept, das "nicht nur die Semantik der Zurückweisung" beinhaltet, sonst komme sie nicht kompetent rüber. "Und Kompetenz vermittelt Vertrauen", sagt Nassehi.
"Bei der Kompetenz ist noch Luft nach oben", stichelt Münstermann in Richtung neue Regierung. Und tatsächlich gerät Frei beim Thema Migration erneut ins Schwimmen. Der Kanzleramtschef windet sich, als er von Miosga mehrfach gefragt wird, wie lange es Zurückweisungen von Asylsuchenden an deutschen Grenzen geben wird. "So kurz wie nötig", sagt der CDU-Mann, das müsse noch geprüft werden. Auch auf ein Ziel oder eine Zahl will er sich nicht festlegen, spricht von einem "verträglichen Maß". "Ihre Migrationspolitik ist sehr kurz gegriffen", urteilt die Journalistin Münstermann.
"Keine politische Schnittmenge mit den Linken"Als es anschließend um die Linke und den Unvereinbarkeitsbeschluss der CDU geht, kracht es noch einmal richtig. Frei, der in der vergangenen Woche im ntv-Frühstart eine andere Linie angedeutet hatte, möchte nun weiterhin nicht in politischen Dingen mit der Partei sprechen, denn es gäbe "keine politischen Schnittmengen mit der Linken". "Aber Herr Frei, das ist doch schöngeredet", fällt ihm Münstermann ins Wort. Die neue Regierung werde immer wieder die Stimmen der Linken brauchen, etwa beim Thema Schuldenbremse, und außerdem habe die CDU die Zusammenarbeit mit dem BSW nicht kategorisch abgelehnt. "Das ist politisch nicht ehrlich", findet die Journalistin.
Auch beim russischen Angriffskrieg in der Ukraine steht nun das Vertrauen in Merz auf dem Spiel. Zusammen mit den Regierungsoberhäuptern Frankreichs, Großbritanniens und Polens fordert er eine 30-tägige Waffenruhe - aber was machen die Europäer, wenn Wladimir Putin weiter bombardiert? "Man braucht die Waffenruhe für die Verhandlungen", legt sich Frei fest. Aber beim Thema Konsequenzen und verschärfte Sanktionen muss er zugeben, dass es immer schwieriger werde, "Punkte zu finden, die weh tun". Ob etwa die EU den Import von russischem Gas komplett stoppt oder das eingefrorene Russland-Vermögen angegangen wird? Der Kanzleramtschef will sich wieder nicht festlegen.
Friedrich Merz gibt am Mittwoch seine erste Regierungserklärung vor dem Bundestag ab. Es geht um die deutsche Wirtschaft und diese wird der nächste Vertrauenstest für den Bundeskanzler. Es herrscht kein Jubel in Deutschland ob der neuen Regierung, stellt Caren Miosga zum Abschluss ihrer Sendung fest: "Ich hoffe, die Euphorie kommt mit Ergebnissen", sagt Thorsten Frei.
Quelle: ntv.de
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