Retrospektive von Vija Celmins in der Fondation Beyeler

Sie ist die Meisterin der unendlichen Präzision: Vija Celmins zeichnet und malt den Sternenhimmel, Spinnweben oder Wolken. Die Fondation Beyeler widmet ihr eine große Retrospektive.
Unendliche Weiten öffnen sich vor dem Blick: Sterne übersäen als weiße Punkte, funkelnd viergezackte Strahlenbündel oder Flecken von lichter Unschärfe das Dunkel der Bilder von Vija Celmins. Doch bevor man sich in der Illusion des Alls verlieren kann, wirft einen die genauere Betrachtung auf die Oberfläche der Werke in kleinem oder großem Format zurück. Mal hat die Künstlerin sie aus winzigen Bleistiftstrichen komponiert, die dem Grauschwarz um die hellen Aussparungen einen fein differenzierten Glanz verleihen, mal mit satterer Kohle in nicht minder minutiöser Arbeitsweise gefertigt, mal mit Ölfarbe, die durch kaum wahrnehmbare Spuren von Blau oder Ocker das Hell-Dunkel der Nichtfarben Schwarz und Weiß nur steigert.
Seit einem Aufenthalt in der Wüste New Mexicos vor mehr als fünfzig Jahren zeichnet und malt die 1938 in Litauen geborene Künstlerin den Nachthimmel – nicht das mit den eigenen Augen geschaute Firmament der Romantiker allerdings, sondern Bilder nach Satellitenaufnahmen. Präzise beachtet Vija Celmins bei ihren Nachschöpfungen die Position eines jeden optisch erfassten Gestirns.

Der grenzenlose Raum schnurrt zusammen auf eine begrenzte Fläche, das Unfassbare wird auf Leinwänden und Blättern greifbar zur Ansicht gebracht. Zeit spielt dabei eine wichtige Rolle: Um das Licht von Sternen, die womöglich längst erloschen sind, auf ihre Weise visuell einzufangen, ist die Künstlerin oft jahrelang mit einzelnen Arbeiten beschäftigt. Es sind Meditationen über das Wesen „unmöglicher Bilder“, wie sie es nennt, die den Kern ihres Schaffens ausmachen – und nun im Zentrum ihrer großen Retrospektive in der Fondation Beyeler stehen.
Rund neunzig Werke aus allen Schaffensphasen – Gemälde und Zeichnungen vor allem, dazu einige dreidimensionale Objekte und Grafiken – präsentiert das Museum. Das ist eine beachtliche Anzahl, hat die Künstlerin doch insgesamt nicht mehr als rund 220 Arbeiten gefertigt.

An Anerkennung für dieses hochkonzentrierte Œuvre fehlt es nicht. Vija Celmins ist in bedeutenden Museen und Privatsammlungen vertreten und wurde mit Einzelausstellungen vom Whitney Museum in New York, dem Centre Pompidou in Paris oder dem Museum Ludwig in Köln gewürdigt. Die Auswahl in der Fondation Beyeler, an der die Künstlerin beteiligt war, vollzieht nun Vija Celmins’ Entwicklung von den Sechzigerjahren bis in die Gegenwart chronologisch nach.
Zeitgenössisch und zeitlos zugleich war sie von Beginn an. Als in den USA die Pop-Art in Knallfarben explodierte und in Kalifornien die Beach Boys für die Begleitmusik zur bonbonbunten Surfer-Kultur sorgten, malte die Künstlerin in ihrem Atelier im Stadtteil Venice Beach von Los Angeles Stillleben in Grautönen: eine Lampe mit zwei Schirmen, die wie starrende Augen wirken, ein Heizgerät, in dem es bedrohlich glüht. Vija Celmins hatte in Indianapolis, wo sie aufgewachsen war, und an der University of California Kunst studiert. Nun war sie auf der Suche nach ihrem eigenen Ausdruck.

Dass ihr das Sonnige nicht lag, lässt sich biographisch begründen. Mit ihrer Familie floh Vija Celmins 1945 aus Riga vor der Roten Armee über Polen nach Deutschland und emigrierte drei Jahre später nach Amerika. Die Schrecken des Krieges hallen in Gemälden nach, die sie Mitte der Sechziger nach Zeitungsbildern schuf: abgestürzte Kampfflugzeuge und „The Los Angeles Riot“ sind die unheimlich gegenwärtig wirkenden Sujets dieser Bilder, die, von Grautönen dominiert, an Andy Warhols Serie „Death and Disaster“ erinnern. Zu Vija Celmins' bleibenden Einflüssen in dieser Periode gehörten die Malerei von Giorgio Morandi, Diego Velázquez und Giotto, die sie auf einer Europareise kennenlernte.
Burning Man“, das Bild eines Mannes, der sich aus dem roten Flammeninferno eines brennenden Wagens befreit, markierte 1968 ihre Abkehr von starker Farbigkeit und figürlichen Darstellungen. Von der Mondlandung inspiriert, fertigte sie Zeichnungen nach Fotos der Oberfläche des Erdtrabanten: abstrakt und gegenständlich zugleich, ohne erkennbare Komposition oder individuellen Duktus. Künstlerisch war Vija Celmins damit angekommen auf dem Weg, den sie immer weiter fortsetzt.

Jedes ihrer Werke ist eine Aufforderung zum genauen und noch genaueren Hinsehen. Das gilt für ihre Wolkenbilder oder Ansichten von Wasseroberflächen, die an Gerhard Richter denken lassen, ebenso wie für Bilder des Wüstenbodens oder des Sternenhimmels. Jede Darstellung ist ein Ausschnitt aus einer über die Bildgrenzen hinausreichenden Weite – und das Bild eines Bildes: ein Doppel, ein Nachbau, gewissermaßen eine Kopie.
Mit ihrer Objektkunst, die weniger als Plastik denn als dreidimensionale Malerei zu verstehen ist, treibt Vija Celmins diese Irritation auf die Spitze. So formt sie aufgelesene Kieselsteine nach, lässt sie in Bronze gießen und bemalt sie detailgetreu nach den Vorbildern, bis eine Unterscheidung zwischen Original und Nachschöpfung dem Augenschein nach nicht mehr möglich ist. „Das Bild in der Erinnerung festhalten“ nennt sie eine solche, von 1972 bis 1982 entstandene Werkgruppe im kleinen Maßstab. In die Nahsicht wechselt sie in den Neunzigerjahren auch mit Schwarz-Weiß-Bildern von Spinnennetzen oder in erdigen Tönen gehaltenen Gemälden von Craquelé auf keramischen Oberflächen.

Heinrich von Kleist sagte über Caspar David Friedrichs Gemälde vom „Mönch am Meer“ bekanntlich, man betrachte es, „als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären“. Ähnliches gilt für Vija Celmins Bilder, die jedoch keine Seelenlandschaften zeigen und seit Langem menschliche Präsenz ausschließen. Deshalb strahlen sie eine große Einsamkeit und Stille aus, auch Todesnähe. Lautlos fällt der Schnee in weißen Flocken vor schwarzem Grund in den neusten Gemälden der Künstlerin. Konstellationen lösen sich auf in einem Gestöber des Zufalls.
Ein kleiner Geniestreich der Ausstellung ist es schließlich, dem Publikum nach der Begegnung mit dem Werk einer Künstlerin, die in ihren Arbeiten so viel Distanz – auch zum Weltgeschehen – hält, Vija Celmins persönlich vorzustellen. Die beiden Filmemacher Ila Bêka und Louise Lemoine haben sie in New York und den Hamptons, wo sie inzwischen lebt und arbeitet, besucht und mit der Kamera ein hintergründiges, durchaus amüsantes Porträt in dreißig Minuten gezeichnet. Wir sehen eine Frau, die nicht gerne Einblicke gewährt, sich aber überreden lässt, Fragen zu beantworten, die langsam arbeitet und schnell Auto fährt, tatsächlich kein Rot im Farbschrank findet, den Himmel mit einer Astronomie-App absucht und Geister von Gemälden an der Wand hat.
Ob es stimme, dass sie das Bild einer Explosion schaffen wolle? Die Künstlerin lächelt und gibt nichts preis. Sicher ist nur: Auch ein solches Bild würde auf paradoxe Weise absolute Ruhe evozieren, weil in ihm die Zeit zum Stillstand käme. In dieser Hinsicht sind Vija Celmins' frühes Bild einer isolierten Hand, die eine Pistole abfeuert, und ihre Sternhimmelbilder, in denen alles auf den Urknall zurückgeht, gar nicht so weit voneinander entfernt, wie man glauben könnte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung