Verfassungsschutz-Gutachten über AfD: Darum erinnert es an Verschwörungstheorien

Dem Autor liegen tausende Seiten Verfassungsschutz-Material vor, auch über die AfD. Die Geheimhaltung des AfD-Gutachtens dient dem Machterhalt der Behörde. Ein Gastbeitrag.
Der Verfassungsschutz musste in Sachen AfD eine Entscheidung treffen. Seit Jahren steht die Partei unter dem Verdacht, extremistische Ziele zu verfolgen und wird deshalb vom Inlandsgeheimdienst beobachtet. Solch schwerwiegende Grundrechtseingriffe sind nur zulässig, wenn sie sich sachlich rechtfertigen lassen, zweckmäßig und verhältnismäßig sind. Das heißt im Umkehrschluss: Es ist dem Verfassungsschutz verboten, eine Partei einfach nach Belieben zeitlich unbegrenzt als „Verdachtsfall“ zu führen. Entweder lässt sich der Verdacht nicht erhärten und die Beobachtung muss eingestellt werden. Oder er lässt sich erhärten. Dann ist die Hochstufung zum „gesicherten Extremismus“ zwingend. Und dennoch dürfte der Vorgang nicht dazu beitragen, das Vertrauen in Rechtsstaat und Demokratie zu stärken.
Das beginnt schon mit dem Zeitpunkt der Entscheidung. Die Innenministerin nahm die Einstufung wenige Tage vor ihrem Ausscheiden aus dem Amt vor. Eine derart für die Demokratie fundamentale Entscheidung hätte sie besser ihrem Nachfolger überlassen. Hinzu kommt, dass der Verfassungsschutz derzeit über keinen regulären Präsidenten verfügt und die AfD kürzlich in Umfragen sogar vor den Unionsparteien lag. Das alles nährt ganz unnötig den Verdacht, dass auch parteipolitische Motive im Spiel sein könnten.
Und noch etwas kommt hinzu: Die Bundesregierung erklärt es als „gesichert“, dass die AfD extremistisch sei. Das hört sich so an, als hätte eine unabhängige wissenschaftliche Einrichtung darüber befunden. Auch wenn von den Beteiligten gerne der gegenteilige Eindruck erweckt wird: Der Inlandsgeheimdienst ist eine weisungsgebundene Behörde wie jede andere auch. Ihr Chef ist letztlich der Bundesinnenminister.
Verfassungsschutz weigert sich konsequent, Beweise vorzulegen„Gesichert“ ist der Sachverhalt daher nicht objektiv, sondern bloß aus der Sicht einer weisungsgebundenen Behörde. Und selbstverständlich kann sich auch ein Geheimdienst irren. Das passiert ihm übrigens ziemlich oft. So beobachtete er über Jahrzehnte hinweg rechtswidrig den ehemaligen Ministerpräsidenten von Thüringen, Bodo Ramelow. Den Menschenrechtsanwalt Rolf Gössner behelligte die Behörde sogar ganze 38 Jahre. Nicht nur in diesen Fällen war der Verfassungsschutz nicht von selbst bereit, sein eigenes verfassungswidriges Verhalten einzugestehen und abzustellen. Er musste von höchsten deutschen Gerichten dazu gezwungen werden.
Dazu passt, dass er sich konsequent weigert, in Sachen AfD Beweise für seine Behauptungen vorzulegen. Er informierte die Öffentlichkeit zwar darüber, dass es ein über 1000 Seiten umfassendes „Gutachten“ gebe. Aber aus Geheimschutzgründen werde es nicht veröffentlicht.
Überzeugend ist das nicht. Dem Autor liegen tausende Seiten geheimer Verfassungsschutz-Unterlagen vor – auch über die AfD. Die Behörde stützt sich darin zu fast 100 Prozent auf für jedermann zugängliche Quellen. Es wäre ein Leichtes gewesen, die wenigen, tatsächlich auf geheimdienstlichen Erkenntnissen basierenden Passagen zu schwärzen und den Rest der Öffentlichkeit zu übergeben. Der Verfassungsschutz tut dies deshalb nicht, weil er sich der öffentlichen Kontrolle entziehen will. Die Geheimhaltung ist ein taktischer Mechanismus, um sich mit der Aura der Unangreifbarkeit zu umgeben. Was öffentlich strittig diskutiert würde, könnte nicht mehr unhinterfragt als „gesichert“ gelten. Es geht bei der Geheimhaltung um nichts anderes als die Macht der Behörde.
Was der Verfassungsschutz als Grund für die Hochstufung der AfD verrät, fällt daher dürftig aus: Ihr Volksverständnis sei „nicht mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung vereinbar.“ Der AfD wird also nicht vorgeworfen, dass sie die politische Ordnung gewaltsam stürzen will. Was man ihr vorwirft, ist ihr „ethnischer Volksbegriff“.
Die Argumentationsfigur stammt aus dem Jahre 2017. Damals hatte das Bundesverfassungsgericht die NPD als extremistische Partei bestätigt, weil sie den Status des Staatsbürgers an die ethnische Abstammung knüpfen wollte. Deutscher könne demnach nur sein, wer auch ethnisch-deutscher Abstammung sei. Ein Türke, der nach Deutschland einwandert, könnte dann niemals Staatsbürger werden. Es entstünde ein Zwei-Klassen-Rechtssystem anhand des Blutes. Das Verfassungsgericht sah hierin einen Verstoß gegen die Menschenwürde und eine Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus.
Argumentationen des Verfassungsschutzes erinnern an VerschwörungstheorienDer Verfassungsschutz agiert wie ein Schüler, der nur mittelmäßig mathematisch begabt ist und jede neue Aufgabe auf einen ihm bereits bekannten Lösungsweg zurückführt. Er wirft der AfD vor, wie die NPD den Rechtsstatus von Menschen allein auf ihre biologische Abstammung zu stützen und Migranten einer „nicht verfassungskonformen Ungleichbehandlung“ aussetzen zu wollen.
Das Problem ist nur: Es gibt nach Kenntnisstand des Autors im Unterschied zur NPD nicht einen einzigen Beschluss der Bundespartei, der einen solchen Vorwurf stützen könnte. Der Verfassungsschutz greift daher auf vereinzelte Aussagen von Mandatsträgern und Funktionären zurück, die er als verfassungsfeindlich interpretiert.
Inzwischen sind erste Zitate aus dem neuen „Gutachten“ in die Öffentlichkeit gelangt (siehe Welt vom 2. Mai 2025). Da das Dokument als geheim eingestuft ist, könnte es sich dabei um eine Straftat handeln – mutmaßlich begangen von einem Behörden- oder Ministeriumsmitarbeiter. Einem AfD-Mitglied wird dabei folgende Aussage zur Last gelegt: „Verfehlte Migrationspolitik und Asylmissbrauch habe zum 100.000-fachen Import von Menschen aus zutiefst rückständigen und frauenfeindlichen Kulturen geführt.“
Der Aussage ist objektiv kein Verstoß gegen die Verfassung zu entnehmen. Es handelt sich um eine robust formulierte Meinungsäußerung. Der Verfassungsschutz greift daher zu einem hermeneutischen Trick: Wenn man ohnehin davon ausgeht, dass die AfD einem verfassungswidrigen ethnischen Volksbegriff anhängt, können verfassungsrechtlich harmlose Aussagen als Zeigerpflanzen für das angeblich zugrundeliegende Weltbild gedeutet werden. Der Verfassungsschutz setzt das, was er beweisen müsste, einfach voraus. Es ist ein Muster, das mitunter selbst an Verschwörungstheorien erinnert.
Nach dem Gutachten: Kommt es zum AfD-Verbotsverfahren?Aber nicht alles, was der Inlandsgeheimdienst tut, ist Fiktion. Es gibt aus den Reihen der AfD fraglos Äußerungen, die verfassungsfeindlich sind – auch in Sachen Volksbegriff. Die Zahl dieser unstrittig verfassungsfeindlichen Äußerungen ist allerdings eher gering. Es ist daher fraglich, ob dies ausreicht, um die Gesamtpartei des Extremismus zu bezichtigen. Und genau an dieser Stelle tritt der hermeneutische Apparat des Inlandsgeheimdienstes in Aktion: Indem auch objektiv verfassungsrechtlich harmlose Sätze im Lichte eines verfassungswidrigen Volksbegriffes gedeutet werden, steigt die Zahl angeblicher Beweise ins schier Unermessliche. Was auf den ersten Blick harmlos erscheint, wird von der Behörde regelmäßig als taktische Zurückhaltung gedeutet. Das könnte zwar so sein. Aber die „Beweisführung“ genügt nicht in jedem Fall rechtsstaatlichen Maßstäben.
Auch die etablierte Politik muss nun wie der Verfassungsschutz eine Entscheidung treffen: Entweder leitet sie ein Verbotsverfahren ein und riskiert dessen Scheitern. Käme es so weit, wäre ein massiver Vertrauensverlust in das politische System und dessen Akteure unvermeidlich. Oder sie verzichtet darauf, weil sie sich den kritischen Blicken unabhängiger Richter und den noch viel höheren Hürden eines Parteiverbots nicht aussetzen will. Dann erschiene sie als unehrlich und inkonsequent. Man kann die AfD nicht glaubwürdig als Bedrohung für die Demokratie bezeichnen und dann nicht handeln. Egal also, wie die Entscheidung auch ausgehen mag, steht die deutsche Demokratie vor ihrer womöglich härtesten Bewährungsprobe in ihrer Geschichte.
Mathias Brodkorb, Cicero-Kolumnist, war für die SPD Kultus- und Finanzminister in Mecklenburg-Vorpommern. Im Jahr 2024 ist sein Buch „Gesinnungspolizei im Rechtsstaat? Der Verfassungsschutz als Erfüllungsgehilfe der Politik. Sechs Fallstudien“ im Verlag zu Klampen erschienen.
Berliner-zeitung