Vor 100 Jahren: Als Hitler die NSDAP neu erfand
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Mild war der 27. Februar 1925, München meldete frühlingshafte 12 Grad. Der 36-jährige Berufspolitiker Adolf Hitler lud am Abend alle Parteigenossen und Parteigenossinnen in den Bürgerbräukeller in der Rosenheimer Straße im Stadtteil Haidhausen zu einer geschlossenen Versammlung. Noch galt für den Österreicher, der erst 1932 eingebürgert werden sollte, ein öffentliches Redeverbot. Kurz vor Weihnachten 1924 war der gescheiterte, zu fünf Jahren Haft verurteilte Putschist nach knapp mehr als einem Jahr Haft vorzeitig aus der Festung Landsberg am Lech entlassen worden. Auf Plakaten lud er nun zur „Wiederbegründung“ der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) ein.
Die war nämlich nach dem gescheiterten Putsch von Hitler und dem Weltkriegsgeneral Erich Ludendorff, Symbolfigur aller völkischen und militanten Rechtsextremisten, im ganzen Reich verboten worden. Die Milde, die die bayerische Justiz dem Putschisten Hitler mit der frühzeitigen Begnadigung zuteilwerden ließ, musste dieser als Einladung missverstehen. Und zwar als Einladung, die zersplitterte völkische Bewegung zu sammeln und neu zu organisieren. Denn das ebenfalls nach dem Putsch verhängte Verbot der NSDAP war von der Regierung in München bereits am 14. Februar 1925 wieder aufgehoben worden.
Verglichen mit heutigen Rechtsparteien hatte es sich bei der NSDAP der frühen 20er-Jahre „um eine Anomalie“ gehandelt, beschreibt der Historiker Armin Nolzen. Denn die Parteien der Weimarer Republik waren grundsätzlich „nach dem Muster des eingetragenen Vereins organisiert, also nach dem Vereinsrecht, und unterlagen damit dem Bürgerlichen Gesetzbuch. Es gab weder ein Parteiengesetz noch ein Parteienrecht, im Unterschied zur heutigen Bundesrepublik, wo die Parteien sozusagen als Mitwirkende bei der politischen Willensbildung des Volkes einen eigenen Verfassungsrang haben“, so Nolzen gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND).
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Hitler zu Besuch bei einer NSDAP-Ortsgruppe in Bayern im Sommer 1925.
Quelle: picture alliance / ullstein bild - ullstein bild
Und dieses Vereinsrecht galt auch für die 1919 gegründete NSDAP: „Die nannte sich zwar politische Partei, doch sie nahm zunächst gar nicht an Wahlen teil“, so Nolzen, der seit Jahren intensiv über die Geschichte der Nazi-Partei forscht. „Die ersten Wahlen, an denen die NSDAP teilnahm, war die Landtagswahl in Baden im Oktober 1925″, so Nolzen. Bei ihrem ersten Urnengang überhaupt erreichte die NSDAP gerade mal 1,16 Prozent der Stimmen. Zuvor hatte die Partei die Linie verfolgt, „mittels Putschismus“ auf die „Überwindung der Weimarer Demokratie“ als zentrales Ziel hinzuarbeiten, so der Historiker.
Wohin das führte, ist bekannt: Am 8. und 9. November 1923 scheitert der von Hitler und Ludendorff angeführte Putsch gegen die bayerische Staatsregierung. Als Vorbild diente dabei die erste militante Rechtsbewegung, die auf diesem Weg tatsächlich erfolgreich die Macht erobert hatte: Mit einem „Marsch auf Rom“ war es im Oktober 1922 den italienischen Faschisten gelungen, im Land eine faschistische Diktatur zu errichten.
Doch anders als deren Führer Benito Mussolini scheiterte Hitler mit seinem Coup im Kugelhagel der bayerischen Polizei. 16 Putschisten, vier Polizisten und ein Unbeteiligter starben. Hitler, obwohl zu Beginn des Putsches eher eine Randfigur, gelang es im Verlauf des nun folgenden Prozesses, sich als aufrechten, aber verratenen Patrioten zu inszenieren.
Zum Zeitpunkt seiner vorzeitigen Haftentlassung war er also bereits im ganzen Reich bekannt. Den dilettantischen Putschversuch deutete er in eine „Bluttaufe“ seiner Bewegung um, die Todesbereitschaft wurde zum Maß aller Dinge seiner Bewegung, die getöteten Putschisten wurden zu „Opfern“ für das Vaterland sowie später zu „Blutzeugen“ des „politischen Glaubens und Wollens“ stilisiert. Ein grotesker „Todeskult“ begleitete fortan die Bewegung.
„Für sich persönlich zog Hitler die Lehre, dass eine ausschließlich auf Putschismus fixierte Strategie gescheitert war“, so Armin Nolzen. Was aber auch bedeutete, „dass die NSDAP nie vom Putschismus abließ, nicht bis zur Machtübernahme 1933. Es lief auf eine Doppelstrategie hinaus: Legalität, also Eroberung von parlamentarischen Mandaten durch Teilnahme an Wahlen bei gleichzeitiger Gewalt unter bürgerkriegsartigen Vorzeichen auf den Straßen durch die SA“, so Nolzen. Die legale Politik der NSDAP „wurde fortan stets flankiert von terroristischen Aktionen“.
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Öffentlicher Aushang zur Neugründung der NSDAP im Münchner Hofbräuhaus am 27. Februar 1925.
Quelle: Archiv
In der sehr kämpferischen Rede vom 27. Februar 1925, dem ersten Auftritt des in der Zwischenzeit medial prominentesten Putschisten und Anti-Republikaners der Weimarer Demokratie, ließ Hitler seine Parteimitglieder allerdings über das weitere strategische Vorgehen seiner NSDAP im Ungewissen. Zwar erklärte er, „wir haben damals das Parlament abgelehnt, warum? Die junge Bewegung wollte nicht Parlamentarier bekommen, als vielmehr Kämpfer erziehen.“ Und führte dann weiter aus: „Der Schlüssel zum Herzen des Volkes heißt nicht Bitte, sondern Kraft.“
Wie sich diese Kraft aber künftig manifestieren würde, ob im Straßenkampf oder ob im Werben um Wählerstimmen, – das ließ er zunächst offen. Denn in Wahrheit meldete sich an jenem 27. Februar 1925 kein vor Kraft strotzender, aber auch kein geläuterter NSDAP-Vorsitzender „zurück“, sondern einer, der vorsichtig abtastete, der sich seines maßlosen Führungsanspruchs in der Bewegung nicht sicher war, nicht sicher sein konnte.
Weil es längst Flügel in der Partei gab, die die einjährige Abwesenheit des sogenannten Führers genutzt hatten, sich mit eigenen Positionen in Stellung zu bringen: Da gab es die neu gegründete „Großdeutsche Volksgemeinschaft“, eine von Alfred Rosenberg gegründete „Ersatz-NSDAP“, in der aber ein viel radikalerer Aktivist wie Julius Streicher dem wenig charismatischen Hitler-Vertrauten Rosenberg das Leben schwer machte. Mit ihr konkurrierte die vor allem in Norddeutschland starke „Nationalsozialistische Freiheitsbewegung Großdeutschlands“, von Hitlers Mitputschist Ludendorff und dem charismatischen Reichstagsabgeordneten Gregor Strasser repräsentiert. Und es gab viele, die nach dem gescheiterten Putsch resigniert hatten.
Adolf Hitler am 27. Februar 1925
„Meine Herren, die Vertretung der Interessen der Bewegung lassen Sie von nun ab meine Sorge sein!“, gab Hitler daher den Anwesenden im Bürgerbräukeller mit auf den Weg. Denn dem 36-Jährigen ging es damals vor allem darum, „sich selbst als zentrale Figur einer auseinanderstrebenden und von Flügelkämpfen gelähmten völkischen Bewegung und seine Partei als zentrale Sammlungsbewegung zu etablieren“, so Armin Nolzen.
Vorsicht war auch deshalb geboten, weil die juristischen Möglichkeiten in der Weimarer Demokratie, „Parteien oder deren Teilorganisationen für eine gewisse Zeit zu verbieten sehr niedrigschwellig waren“, wie der Historiker erklärt, „niedrigschwelliger zumindest als in der heutigen Bundesrepublik“. Da Parteien, wie bereits erwähnt, als eingetragene Vereine organisiert waren, hatte das laut Nolzen zur Folge, „dass sie der Aufsicht des Reichsministeriums des Innern beziehungsweise der Polizei als Exekutive unterstellt waren, was dazu führte, dass im Saal gern jemand saß und mitschrieb, was der Hitler da vorn erzählte.“ Per einfacher Polizeiverordnung konnten „die Tätigkeit einer politischen Partei unterbunden werden, es konnten Versammlungen, Zeitungen verboten, Rednern konnte das Rederecht entzogen werden“, sagt Armin Nolzen.
Und es gab zahlreiche Beispiele, wo die Länder solche temporären, partiellen Verbote gegen die NSDAP, die SA, gegen einzelne Redner auch vollzogen. Zudem galt auf Reichsebene das „Republikschutzgesetz“, erlassen nach der Ermordung des Außenministers Walther Rathenau im Juni 1922. Erstmals angewendet wurde es nach dem gescheiterten Hitler-Ludendorff-Putsch im November 1923. Nolzen spricht daher von „einer regelrechten Kaskade von juristischem Vorgehen gegen die NSDAP, was das heute oft bemühte Bild einer schwachen Demokratie, die zur Selbstaufgabe neigte, weitgehend revidiert“.
Im Parteienspektrum der Weimarer Demokratie betrieb die NSDAP, auch wenn sie sich fortan Wahlen stellte, eine Art Fundamentalopposition. „Es gab für die NSDAP nicht DAS Thema, jedes Thema war für sie politisch. Ex negativo konstituierte die NSDAP sozusagen eine Fundamentalpolitisierung, in der alle Themen adressierbar werden – im Unterschied zur heutigen AfD, die vor allem auf ein Thema setzt: Migration“, so Nolzen.
Und noch einen wesentlichen Unterschied sieht der Historiker zur aktuellen Situation in den westlichen Demokratien: „Heutige populistische, extremistische Parteien in Europa haben keinen militärischen Arm, ihnen fehlt die mobilisierbare Bürgerarmee, im Falle der NSDAP war das die SA mit 500.000 jungen Mann unter Waffen.“
Mit ihrem militärischen Arm suchte Hitlers Partei „den Kampf auf der Straße gegen den politischen Gegner und gegen die Juden“, während sie gleichzeitig in den Parlamenten um Mehrheiten rang, „um eine Abschaffung der parlamentarischen Regierungsform durch Mehrheitsentscheid zu realisieren, das war die Perspektive, um die es der NSDAP in dieser Phase bis 1933 ging“, so Nolzen. Auf einen Nenner gebracht: Hitlers Partei inszenierte mit ihrer Militanz Krisen, die sie dann der Weimarer Demokratie anlastete, um wiederum bei Urnengängen als „Krisenlöser“ gewählt zu werden.
Das zynische Spiel ging mit der Machtübernahme schließlich im Januar 1933 auf, Produkt einer „permanenten Mobilisierung, eines permanenten Stimmenzuwachses, des permanenten Mitgliederzuwachses – um dann qua Mehrheit über ein ‚Ermächtigungsgesetz‘ die politische Konkurrenz auszuschalten.“ Kompromisse oder eine konstruktive Teilhabe an Demokratie sah diese Strategie nie vor.
rnd