Wir sollen mehr und effizienter arbeiten, Herr Merz? Dann liefern Sie erst mal!

Friedrich Merz ist jetzt Kanzler. Und wie ein Firmenchef, der die marode Bilanz eines mittelprächtigen Großkonzerns in der Hand hält, blickt er auf Deutschland und sagt: „Da geht noch was.“ Mehr Stunden, mehr Einsatz, mehr Arbeit. Merz bläst zum Leistungsmarsch. Dazu sei es nötig, „wieder mehr und vor allem effizienter“ zu arbeiten. Schluss mit der weichgespülten Work-Life-Balance, jetzt wird malocht – für die Nation, den Aufschwung, versteht sich.
Konkret: Eine Stunde mehr für alle – zack, weg mit dem Acht-Stunden-Tag. Laut Merz sei das „zumutbar“. Und praktisch auch: Bei 40 Millionen Erwerbstätigen ergibt das rechnerisch 1,8 Millionen zusätzliche Vollzeitstellen. Ohne Migration, ohne Umschulung, ohne Hexenwerk – ganz einfach, Baby.
Und auf dem Papier? Ja, sieht’s fast clever aus, macht sogar Sinn. Deutschland liegt laut OECD mit 1349 Arbeitsstunden pro Jahr im unteren Drittel. Die USA: 1791. Südkorea: 1910. Mexiko: über 2100. Klar, dagegen wirken deutsche Arbeitnehmer wie das Urlaubsvolk der Siesta-Fraktion – obwohl wir mit Abstand zu den produktivsten überhaupt gehören.
Aber Statistik hin oder her. Der CDU-Politiker Merz vergisst in seinem Rechenexempel leider ein kleines Detail: Wer bitte soll denn die Extra-Stunde eigentlich leisten? In vielen Bereichen, wie in der Start-up-Szene, gibt es längst keine Stechuhr-Mentalität mehr. Aber was ist mit der alleinerziehenden Mutter, oder auch der, die einen Partner hat, die sich täglich durch ein Tetris-Level aus Kita, Job, Hausaufgaben, Amtswegen und Brotdosen kämpfen – mit einem System, das seit Jahren regelmäßig den Geist aufgibt? Unflexiblen Arbeitszeiten, Kitas viel zu früh dicht, und, und, und.
2024 arbeiteten 68 Prozent der Mütter mit Kindern unter 18 in Teilzeit. Nicht aus Jux, sondern weil sie oft keine andere Wahl haben. Bei Müttern mit Kindern unter drei Jahren: satte 73 Prozent. Und jetzt ein paar Stunden obendrauf, weil der Kanzler in Arbeitsstunden rechnet wie andere in Excel?

Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist in Deutschland seit Jahren ein politisches Trümmerfeld. Kita-Plätze? Rar. Ganztagsschulen? Ein Glückslos. Betreuungslücken? Systemisch. Hinzu kommt: Wer als Mutter arbeitet, wird immer noch schräg angeschaut, als hätte sie gerade den Herd beleidigt. In Schweden nennt man’s Erwerbstätigkeit, in Deutschland Rabenmutter. Denn klar: Statt gemütlich Bio-Baumwollwindeln und Öko-Möhren zu Brei auszukochen, wollen diese Frauen auch noch Karriere machen. Oder vielleicht einfach nur die Miete zahlen. Steigende Lebenshaltungskosten lassen sich nämlich schlecht mit Applaus und irgendwann ausgezahlter Mütterrente abfedern.
Wenn Merz also fordert, dass „Deutschland sich mehr anstrengen muss“, dann stellt sich die Frage: Wer genau ist gemeint? Die DAX-Vorständin mit zwei Nannys? Der Steuerberater im Homeoffice? Oder doch eher die Kassiererin mit zwei Kindern, Frühschicht und kaum Betreuung?
Unbestritten in der Debatte: Deutschland braucht mehr FachkräfteNatürlich haben wir einen Fachkräftemangel. Natürlich braucht es eine gesamtgesellschaftliche Kraftanstrengung, um Deutschland wieder wirtschaftlich auf Erfolgskurs zu trimmen. Aber anstatt reflexhaft nach der Stechuhr zu greifen, könnte man sich daher mal ernsthaft fragen: Warum arbeiten so viele Menschen nicht in Vollzeit? Und was müsste sich ändern, damit sie es können – und wollen?

Antworten gefällig? Voilà: Flächendeckende, gebührenfreie Kita- und Hortplätze. Eine Steuerreform, die Individualbesteuerung belohnt statt das Hausfrauenmodell. Ein Pflegesystem, das nicht automatisch in die Teilzeitfalle führt. Und vor allem: mehr Respekt für arbeitende Mütter, statt latentem Moralstalking durch die Gesellschaft. Da lohnt ein Blick nach Skandinavien oder Frankreich. Die können es. Warum nicht auch wir?
Ach ja, und Geld. Denn wer mehr will, muss auch mehr bieten: mehr Lohn, mehr Rentenpunkte, mehr Sicherheit. Nicht nur den moralischen Appell an den „Dienst am Vaterland“.
Kanzler Merz liefert aber bisher keine Gegenleistung außer Pflichtgefühl und Durchhalteparolen. Sorry, aber das reicht nicht. Denn solange Menschen sich zwischen Butterbrot schmieren und Burnout entscheiden müssen, ist jede zusätzliche Arbeitsstunde keine patriotische Heldentat – sondern einfach nur Zumutung.
Der Vorschlag ist daher nicht komplett falsch. Er ist nur halbfertig. Wie so viele politische Ideen der letzten Jahre. Kurz mal in den Ring geworfen und es steht zu befürchten, dass Merz sich wegduckt, wenn es um einen wirklichen Umbau der Gesellschaft gehen soll. Wer länger arbeiten lassen will, muss dies aber tun und vieles umkrempeln. Wer sich an Mexiko orientiert, sollte wenigstens Betreuung liefern wie Stockholm.
Sonst bleibt sein Vorschlag das, was er wohl wirklich ist: ein Vorschlag für Deutschland. Aber nicht für die, die dieses Land tagtäglich stemmen und ganz sicher nicht für die, die schon heute einen Drahtseilakt vollführen. Aber Hauptsache, wir haben mal darüber gesprochen.
Berliner-zeitung