Deutschland gegen Nordirland: Nagelsmann setzt auf alte Lösung

Mit dem Ball am Fuß lief er los, durch den Mittelkreis des Kölner Bundesliga-Stadions, in Richtung Seitenauslinie. Dann schoss er, der Ball krachte mit Wucht gegen die Bande. Solche Aktionen will Bundestrainer Julian Nagelsmann sehen. Aktionen, die Leidenschaft, Zielstrebigkeit und Aggressivität verbinden. Nur leider kann er beim WM-Qualifikationsspiel gegen Nordirland am Sonntag (20.45 Uhr, RTL) in Köln jenen Mann nicht aufstellen, der zu Beginn des Abschlusstrainings am Vorabend der Partie antrat und den Ball in die Spielfeldbegrenzung hämmerte. Der Mann war Nagelsmann selbst.
Nach der 0:2-Blamage zum Start der WM-Qualifikation gegen die Slowakei wird die Partie gegen Nordirland zur Bewährungsprobe, zum Charaktertest für eine verunsicherte deutsche Nationalmannschaft. Und zu einem Termin mit wegweisendem Charakter für den angeschlagenen Nagelsmann, der das Team bei der Demontage in Bratislava mit komplexen taktischen Plänen überfordert hatte.
Die Lage vor der Partie in Köln ist ein Abziehbild der Situation im November 2023. Etwa ein Dreivierteljahr vor dem Start der Heim-Europameisterschaft hatte die DFB-Elf erst 2:3 gegen die Türkei verloren und - noch dramatischer - bei einem blutleeren Auftritt ein 0:2 in Österreich kassiert. Die beiden Testspiele warfen Fragen auf.

Gegen die Türkei wollte Nagelsmann mit überraschenden Ansätzen punkten: Der erst zwei Monate zuvor installierte Bundestrainer hatte etwa Offensivspieler Kai Havertz als Linksverteidiger aufgeboten. Im Anschluss verteidigte er die Kritik an Havertz, damit also an seiner eigenen Idee. Im folgenden Duell mit den Österreichern spielte Havertz wieder links hinten, allerdings in einer Dreier-/Fünferkette.
Die Pleitenacht von Wien, in der ein sichtlich frustrierter Leroy Sané kurz nach der Halbzeit für eine Tätlichkeit die Rote Karte sah, bewegte Nagelsmann zum Umdenken. Er holte Toni Kroos zurück in die Nationalmannschaft - und kündigte an, mehr „Worker“ (Arbeiter) aufzustellen, also Arbeiter. Die Wende gelang, der Einzug ins EM-Viertelfinale wurde als Erfolg gewertet.
Nun, etwas mehr als ein Jahr nach dem Turnier, steht Nagelsmann so sehr unter Druck, dass seine Tauglichkeit für den Bundestrainer-Job angezweifelt wird. Sollte er am Tag vor dem Nordirland-Spiel einen Spaziergang durch Köln unternommen haben, wäre er an den Zeitungskästen des „Express“ vorbeigekommen. Auf der Titelseite des rheinischen Boulevardblatts war Nagelsmanns Gesicht zu sehen, dazu die Frage: „Ist er noch der Richtige?“ Ein Reporter aus Nordirland erkundigte sich bei der Pressekonferenz am Tag vor der Partie bei Nagelsmann, ob er sich Sorgen um seinen Job mache: „Besorgt zu sein, ist nie ein guter Ansatz“, antwortete er.
Wie Ende 2023 muss Nagelsmann auch jetzt Lösungen für eine Krisensituation finden, nur hat er diesmal keine vier Monate Zeit, sondern nur 72 Stunden. Seine Antwort scheint die gleiche zu sein. „Vielleicht müssen wir auf weniger Qualität setzen, sondern auf Spieler, die alles reinwerfen“, hatte er direkt nach dem 0:2 gegen die Slowakei gesagt. Heißt: Wieder sollen es die Arbeiter richten, die „Worker“.
Am Tag vor der Nordirland-Partie saß Nagelsmann im Pressesaal des Kölner Stadions und gab Einblicke in seine Überlegungen. Er kündigte an, dass beim Personal „sicher ein bisschen was passieren“, also der eine oder andere Spieler ausgetauscht werde im Vergleich zur Niederlage gegen die Slowakei. Seine Aufgabe sei, den Kader „nochmal zu sortieren“ und auf Profis zu prüfen, die für Krisen gemacht sind: „Wir brauchen Spieler, die zu der Situation passen.“
Nagelsmann vertritt weiter die Auffassung, dass fehlende Emotionalität der Hauptgrund für die Blamage in Bratislava war, weshalb er offenbar keinen Grund sieht, gegen Nordirland umfassende taktische Anpassungen vorzunehmen. „Wir werden inhaltlich keine komplett veränderte Mannschaft sehen“, sagte er. Dabei liegt es - wie Ende 2023 - auch an ihm, die taktischen Experimente aus seiner Feder kritisch zu hinterfragen.
Eine indisponierte Verteidigung um Antonio Rüdiger und Neuling Nnamdi Collins, ein allzu flexibel eingesetzter Kapitän Joshua Kimmich im defensiven Mittelfeld, ein wirkungsloser Leon Goretzka auf der Zehn, ein abgemeldeter Nick Woltemade - gegen die Slowakei gab es überall Problemzonen im schwer nachvollziehbaren deutschen Konstrukt. Allerdings sind die Möglichkeiten zur Veränderung beschränkt (auch wegen vieler verletzter Spieler) und teilweise politisch heikel.
Nagelsmann könnte Kimmich gegen Nordirland zurück auf die rechte Abwehrseite stellen, würde dann aber in Rekordzeit seinen mit Pomp verkündeten Plan einstampfen, dem Kapitän die Sechser-Rolle anzuvertrauen. Er könnte Antonio Rüdiger durch Robin Koch oder Waldemar Anton ersetzen, würde damit aber den als Führungsspieler vorgesehenen Real-Madrid-Profi degradieren. Vergleichsweise einfach wäre es, Robert Andrich und/oder Pascal Groß in die Mannschaft zu nehmen, zwei Spieler mit „Worker“-Qualitäten.
Fest steht: Die Deutschen brauchen einen Sieg, um die längste Negativserie seit 2023 zu beenden. Zuletzt hat die Mannschaft viermal nacheinander nicht gewonnen. Vor zwei Jahren gab es sogar fünf Spiele in Serie ohne Sieg. Nach dem fünften, einem 1:4 gegen Japan, wurde der damalige Bundestrainer Hansi Flick entlassen.
rnd