Dritte Liga: Ein Superlöwe trifft

Es war gar nicht so leicht, am Freitagnachmittag von Bayern aus nach Essen zu gelangen. Kübelweise Regen, Stau auf der A3, Stau auf der A42, eine sabotierte Zugverbindung zwischen Düsseldorf und Duisburg: So schafften es einige Hundert Fans aus dem harten Kern des TSV 1860 München gerade noch, gleichzeitig zum Einlauf der Mannschaften unten auf dem Spielfeld auf der Tribüne einzulaufen. Und dann mussten die rund 2500 angereisten Löwen-Unterstützer, die wochenlang auf diesen Tag hingefiebert hatten, auch noch mit ansehen, wie die Münchner Spieler gegen Rot-Weiss Essen noch nach ihren Positionen auf dem Rasen suchten. Was zur Folge hatte, dass nach nur sechs Minuten Essens José-Enrique Rios Alonso das Premierentor der neuen Drittliga-Saison erzielte, weil sich die in den vergangenen Wochen so hochgelobte Abwehr der Sechziger düpieren ließ.
„Ich hatte auch immer das Gefühl, dass wir das 1:1 machen können“, beruhigte Sechzigs Geschäftsführer Christian Werner später im Kabinengang. Seine Aussage hörte sich hernach undramatischer an, als sie tatsächlich war. Dieses Spiel, um es im Duktus des Ruhrgebiets zu sagen, hatte ja ein Riesen-Gedöns ausgelöst: Zwei vermeintliche Spitzenteams treffen zum Auftakt in einem ausverkauften Stadion aufeinander, und dann hielt es auch über weite Strecken, was es versprochen hatte.
„Wir hatten eine gute Vorbereitung, klar“, hatte Sechzigs Trainer Patrick Glöckner zwei Tage vor dem Auftaktspiel zugegeben, „aber keiner weiß, was passiert denn wirklich da draußen vor 20 000 Zuschauern.“ Da draußen an der sehr lauten Hafenstraße hatten seine Spieler denn auch die Anfangsphase ein wenig verpatzt, obwohl Sechzigs neuer Torwart Thomas Dähne den ersten scharfen Kopfball entschärfte: Er fischte den Aufsetzer Michael Schultz aus dem rechten Eck.
Und dann „haben wir auf der falschen Seite herausgespielt“, ärgerte sich Trainer Glöckner. Denn der Ball landete bei Tom Moustier, und Rios Alonso, der in der vergangenen Saison gerade einmal ein Tor erzielt hatte, düpierte mit einem kurzen Antritt die gesamte Hintermannschaft und drückte den Ball aus einem Meter Entfernung über die Linie, sehr zur Freude der Fans im Bengalo-Licht über ihm auf der Tribüne.

Der frühere 1860-Vizepräsident Bay wehrt sich nach dem gescheiterten Verkauf der Ismaik-Anteile gegen Vorwürfe. Der angeblich fast fixe Deal wird von extrem vielen Merkwürdigkeiten begleitet – und wirft die Frage auf, wer in Ismaiks Firma der Boss ist.
Danach entwickelte sich ein Spiel, das in der vergangenen Saison nicht unbedingt als sechzig-typisch gegolten hätte: Die Löwen bearbeiteten den Gegner mit viel Ballbesitz, sie verließen sich auf ihre Passgenauigkeit und ihre Positionstreue, die ihnen in den Wochen der Vorbereitung viel Lob eingebracht hatte. Doch das Spiel nach vorne blieb zunächst harmlos, erst in Minute 17 lag der Ausgleich in der Luft: Kapitän Jesper Verlaat zielte nach einer Flanke von Tunay Deniz per Kopf auf das nahe Kreuzeck, doch Essens Keeper Felix Wienand parierte.
Sogleich entwickelte sich ein aufregendes Spiel, das hin und her wogte, in dem sich aber die Heimelf vor allem aufs Kontern verlegte. Besonders gefährlich wurde das, als Verlaat einen langen Ball unterlief und Ramien Safi nach einem Haken frei zum Schuss kam – heraus kam aber nur ein klägliches Schüsschen (23.). In der Offensive war vom neuen Superlöwen-Duo nicht allzu viel zu sehen, genauer gesagt: von Florian Niederlechner ein bisschen, als Störenfried im Anlaufen der Essener Abwehr, und als Vorbereiter einer guten Möglichkeit (26.), von Kevin Volland fast nichts.
Die Zuversicht, dass Sechzig noch ein Tor schießen könne, schöpfte Christian Werner vor allem aus der Gewissheit, dass er derart viel individuelle Qualität zu Sechzig gebracht hat, dass nicht viele gute Chancen nötig sind. Zunächst hätte Volland beinahe dem Spiel eine völlig andere Wendung gegeben, als in der 50. Minute seinem Gegenspieler Tobias Kraulich enteilt war und dieser ihn von hinten umgrätschte. Doch Volland stand auf, der Schiedsrichter ließ den Vorteil laufen – und zeigte dem schon mit Gelb verwarnten Kraulich auch danach nicht die Ampelkarte. Essens Trainer Koschinat bedankte sich für „die krasse Fairness Vollands“, doch sein kongenialer Partner Niederlechner fand: „Wenn er liegen geblieben wäre, wäre das für uns vielleicht ein größerer Vorteil gewesen.“
So musste Niederlechner selbst ran. Aus abseitsverdächtiger Position, nach einem langen Pass von Sean Dulic, überlupfte er Wienand zum ersehnten Ausgleich (68.). Die individuelle Qualität in dieser Szene lag aber nicht unbedingt in seinem Heber, sondern in seinem schrägen Laufweg vor dem Pass. „Ich glaub‘, der Rechtsverteidiger hat das Abseits aufgehoben“, befand Niederlechner später. Die Entscheidung war so knapp gewesen, dass sie in Wahrheit selbst im Standbild kaum aufzulösen war. Diese Szene stand dann auch stellvertretend dafür, dass es für den Top-Favoriten auf die Meisterschaft, auch aus Sicht der allermeisten Gegner, kein Durchmarsch wird, sondern immer wieder Kleinigkeiten über Sieg oder Punkteteilung entscheiden werden.
Und es gab auch wieder das Scheich-Lied, ein Schmähgesang gegen den Immer-Noch-Investor Hasan Ismaik, auch die Fahne mit seinem durchgestrichenen Konterfei war zu sehen, doch das Spiel in Essen geriet dann doch zur erfolgreichen sportlichen Ablenkung vom geplatzten Investoren-Deal und der anstrengenden Aufarbeitung der Vorkommnisse.
Die Mannschaft übrigens fuhr gleich nach dem Spiel mit dem Bus Richtung München in die Nacht hinein, vermutlich kamen sie ohne Stau durch, und alle Beteiligten gingen davon aus, dass die Stimmung auf der Heimfahrt nach diesem Remis zum Auftakt nicht allzu schlecht sein wird.
süeddeutsche