Ein mexikanischer Youngster behauptet sich als Giro-Leader – er ist die Überraschung der bisherigen Radsaison


Manche Menschen werden im Schnelldurchlauf erwachsen. Nach Albanien, zur Grande Partenza des Giro d’Italia, fuhr der 21-jährige Isaac Del Toro voller Neugierde und Respekt. «Ich bin damit aufgewachsen, am Fernseher Richard Carapaz und Egan Bernal zu bewundern. Jetzt bin ich mit ihnen an einer Grand Tour, fahre Seite an Seite mit ihnen», sagte der Mexikaner und blickte noch immer halb verzaubert auf den Start der Italienrundfahrt zurück.
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Die Equipe UAE Emirates hatte Del Toro vor allem zum Lernen mitgenommen. «Er hat eine freie Rolle, soll die beiden Captains Juan Ayuso und Adam Yates unterstützen. Wir üben aber keinen Ergebnisdruck auf ihn aus», sagte der UAE-Sportdirektor Joxean Fernández Matxín.
Kurze Lehrzeit – und dann im rosa TrikotDie geplante Lehrzeit schrumpfte indes zu wenigen Lehrtagen zusammen. Als Del Toro nach einem bravourösen Ritt über die weissen Schotterpisten der Toskana das rosa Trikot überstreifte, war er noch scheu und verwundert, wie ihm da geschah – ein Jüngling eben, der vor der Zeit auf der grossen Bühne landet. Brav lobte er sein Team, obwohl er es doch vor allem seinem Können auf dem Rad und dem Renninstinkt verdankte, dass er auf der neunten Giro-Etappe in Siena mit dem Classique-Spezialisten Wout van Aert um den Tagessieg sprinten konnte.
Ein paar Tage später schien vieles bereits Routine: das rosa Trikot, die Medientermine, das Renngeschehen. Als ihn Journalisten fragten, ob er nun daran glaube, den Giro gewinnen zu können, sagte Del Toro: «Wenn ich nicht daran glaube und auch ihr nicht daran glaubt, dann ist das ein Problem.» Doch dieses Problem gibt es nicht; mittlerweile trauen ihm die Experten den Giro-Gesamtsieg zu. Ob er ihn schon in diesem Jahr schafft, steht woanders.
Del Toro wurde der Velosport gleichsam in die Wiege gelegt. Sein Vater Jo Del Toro war selbst Radfahrer. Und auch der zwei Jahre ältere Bruder Ángel fuhr Velo. Als Isaac zwölf Jahre alt war, folgte er dem Beispiel des Bruders. «Anfangs machte ich mir nicht so viel daraus. Das Velo war einfach da. Aber die Schule und die Freunde waren mir wichtiger», sagte er. In seiner Heimatstadt Ensenada, einem Küstenort in Baja California, sind Surfen oder Segeln ohnehin angesagter.
Doch Del Toro fand schnell heraus, dass er Talent hat. «Mit 15 Jahren habe ich gemerkt, dass das wirklich eine gute Sache ist, und habe es ernsthafter betrieben.» Aus dieser Zeit stammt auch ein Video, das ihn als lernbegierigen Radfahrer zeigt.
15 YEARS OLD — Isaac Del Toro sharing what got him into cycling 🤩🇲🇽6 years have passed and Torito is now leading the Giro d’Italia into week 3 !!!!! 😱🩷
Cycling prodigy 🐂🇲🇽🇲🇽🇲🇽🇲🇽🇲🇽 pic.twitter.com/R1YJoknIOX
— Isaac del Toro Fan Club 🇲🇽🐂 (@IsaacDelToroFC) May 26, 2025
Noch im Teenageralter siedelte Del Toro nach Europa über. In San Marino nahm er am Entwicklungsprogramm des Radteams AR Monex teil. Dieses sucht weiterhin nach Talenten aus Mexiko und veröffentlicht auf der Website regelmässig Termine für Leistungstests in den Altersgruppen von 13 bis 22 Jahren.
Wer aufgenommen wird, lebt während neun Monaten im Jahr in San Marino und nimmt an Rennen in Europa teil. Besonders ist die Kooperation mit der Schulbehörde von San Marino: Der Unterricht erfolgt auf Italienisch und Spanisch. Auch Del Toros Freundin Romina Hinojosa, die ebenfalls Radprofi ist und aus Mexiko stammt, nutzte AR Monex als Startrampe – mittlerweile fährt sie im belgischen Lotto-Team.
In San Marino fand Del Toro Anschluss an gleichaltrige italienische Talente. Im gleichen Haus, nur ein Stockwerk höher, wohnen auch Davide Piganzoli und Giulio Pellizzari. Die fahren zurzeit ebenfalls am Giro. Pellizzari ist bei Red-Bull-Bora-Hansgrohe nach dem Ausstieg von Primoz Roglic die grösste Kletterhoffnung und Gesamt-Neunter; Piganzoli fährt für das zweitklassige Team Polti Visitmalta, in der Gesamtwertung ist er Zwölfter.
Das Trio ist die wohl spannendste Hausgemeinschaft im Radsport der Zukunft. Bei der Tour de l’Avenir 2023, dem wichtigsten Nachwuchsrennen, belegte es die ersten drei Plätze – Del Toro vor Pellizzari und Piganzoli. Die drei Freunde bereiteten sich damals sogar auf den gleichen Strassen auf das Rennen vor. «Piganzoli und ich haben ihn auch zur Pizza eingeladen und zum Eis danach, und dann traut er sich, uns zu bezwingen», witzelte Pellizzari.
Zahlreiche Nachwuchsrennen haben die drei bereits gemeinsam absolviert. Anfangs war Pellizzari noch stärker. «Mittlerweile hat sich das ins Gegenteil verkehrt», sagte er kurz nach der Tour de l’Avenir. Und in den Monaten danach wurde der Abstand noch grösser. «Das Umfeld macht den Unterschied. Isaac trainierte schon mit Pogacar, Ayuso und all den anderen Grössen. Das verschafft Sicherheit in die eigenen Mittel», sagte er Anfang 2024. Da holte Del Toro in Australien bereits seinen ersten Sieg auf der World Tour, während Pellizzari noch ein Jahr beim zweitklassigen Bardiani-Team blieb, bevor ihn zu Beginn dieser Saison Red Bull verpflichtete. Bei der Bergankunft auf der Station San Valentino kam Pellizzari am Dienstag hinter seinen Landsleuten Lorenzo Fortunato und Christian Scaroni als Dritter ins Ziel.
Wie gut kann er klettern?Der Youngster Del Toro hat mittlerweile sogar Vorteile gegenüber Tadej Pogacar. Er ist explosiver als Pogacar in seinem Alter, was er beim Sammeln von Bonussekunden an diesem Giro bereits unterstrichen hat. Wie geschickt Del Toro auf dem Velo ist, bewies er sowohl bei der Fahrt über den Schotter auf der 9. Etappe als auch während des Massensturzes auf der 14. Etappe. Nachdem er von einem Kollegen angefahren worden war, kam er schnell wieder aufs Rad und fand zwischen den vielen anderen gestürzten Fahrern und den aufgeregten Helfern mit den Ersatzvelos so schnell den Weg auf die Strasse zurück, dass er als einer der wenigen Klassementfahrer in der ersten Verfolgergruppe das Ziel erreichte.
Am Dienstag auf der 16. Etappe über vier Berge schwächelte Del Toro allerdings und verlor wichtige Sekunden im Kampf um den Gesamtsieg. Im Schlussanstieg konnte er nicht auf die Attacke des Ecuadorianers Richard Carapaz reagieren, der 1:36 Minuten Rückstand wettmachte und nun als Gesamtdritter bloss noch 31 Sekunden hinter Del Toro liegt. Auf die Fahrer warten nun noch der Mortirolopass und die Colle delle Finestre als ultimative Reifeprüfungen. Teamintern ist Del Toro mittlerweile der Giro-Captain. «Wir fahren jetzt für ihn», erklärte der UAE-Sportdirektor Fernández Matxín die neue Hierarchie am Montag, dem letzten Ruhetag. Er sagte das, noch bevor der Captain Ayuso am Dienstag weit zurückfiel.
Eine Auszeichnung kann Del Toro allerdings nicht mehr erwerben: Er ist bereits zu alt, als dass er noch der jüngste Giro-Sieger der Geschichte werden könnte. Das bleibt bis auf weiteres Fausto Coppi; er war bei seinem Triumph im Jahr 1940 20 Jahre jung.
nzz.ch