Während Karl Egloff am Flughafen sitzt, steht sein Kontrahent am Mount Everest in der Todeszone – Gipfelerfolg und Weltrekord verpassen beide


Am Dienstagnachmittag steht Tyler Andrews, 35 Jahre alt, am Balcony auf 8400 Meter über Meer. Die Passage ist eine der letzten Schlüsselstellen auf dem Weg auf den Mount Everest. Andrews ist einer der Letzten am Berg, die Hochsaison am höchsten Gipfel der Welt ist vorbei.
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Andrews ist seit über 18 Stunden unterwegs, muss todmüde sein; im Aufstieg verzichtet er auf Flaschensauerstoff. Doch der Amerikaner will einen Weltrekord aufstellen: vom Basislager auf den Gipfel in weniger als 20 Stunden und 24 Minuten. Doch jetzt spürt er, dass er scheitern könnte.
Währenddessen sitzt Karl Egloff am Flughafen von Kathmandu und freut sich auf die Heimkehr und seine Familie. Wie Andrews plante auch der Schweizer Bergsteiger einen Weltrekordversuch, wollte so schnell wie möglich vom Basislager auf den Gipfel und zurück, ohne zusätzlichen Sauerstoff. Wegen schlechter Wetterbedingungen kehrte Egloff, 44 Jahre alt, am vergangenen Samstag auf 7000 Meter über Meer um.
Er habe hoch über sich Schneefahnen gesehen, was auf Sturm hingedeutet habe, sagt Egloff. Für den weiteren Aufstieg ohne Flaschensauerstoff war dieser Wind zu stark. Und die Kälte zu gross. «Es gab nur ein ganz kurzes Wetterfenster.» Der Wind sei nicht wie erhofft abgeflaut. «Ich hatte vorher entschieden, dass ich mich bei solchen Bedingungen nicht in die Todeszone wagen würde.»
Es lockt das Alleinstellungsmerkmal unter den HöhenbergsteigernEgloff ist von Beruf Bergführer. Vor der Reise in den Himalaja betonte er immer wieder, dass Sicherheit sein oberstes Gebot sei. In Ecuador, seiner zweiten Heimat, wo er jahrelang lebte, war er als Bergretter tätig gewesen. Er weiss also, was passieren kann, nicht erst, seit er im Everest-Basislager das Buch «In eisigen Höhen» von Jon Krakauer gelesen hat, einen Tatsachenbericht über ein schweres Unglück im Jahr 1996 mit acht Toten am Mount Everest.
Zeitgleich wie Egloff war auch Andrews am Wochenende am Berg. Eine Situation, die der Schweizer aus Sicherheitsgründen eigentlich verhindern wollte. Die beiden Alpinisten sollten sich am Everest ein Fernduell um die schnellste Besteigung liefern, der Streamingdienst Netflix inszeniert den Zweikampf in einer Dokumentation. Hier Egloff, der routinierte Alpinist; da Andrews, zehn Jahre jünger, der einst Marathon lief und aus der Trail-Running-Szene kommt. Am Samstag verpassten beide den Gipfelerfolg. Egloff sagte nach der Rückkehr ins Basislager: «Es war der richtige Entscheid. Ich bereue nicht, dass ich umgekehrt bin.»
Egloff hält zahlreiche Geschwindigkeitsrekorde, unter anderem am Makalu, 8485 Meter hoch, und am Aconcagua, mit 6961 Meter der höchste Berg Südamerikas. Dazu die Bestmarken am Elbrus, am Kilimanjaro und am Denali, den höchsten Bergen Europas, Afrikas und Nordamerikas also. Egloff will alle Seven Summits in Bestzeit besteigen, dazu gehört der jeweils höchste Berg eines Kontinents.
Bis jetzt stellte er die Rekorde an weniger frequentierten Gipfeln als dem Everest auf; hatte am Berg schon gar keinen Konkurrenten wie Andrews in der Nähe. Vor dem Rekordversuch liess Egloff hier und da durchblicken, dass er das inszenierte Duell nicht gesucht habe, bisweilen spürte man sein Unbehagen.
Doch Netflix finanzierte die Expeditionen der Kontrahenten und garantiert viel Aufmerksamkeit. Die Konkurrenz unter den Höhenbergsteigern ist gross, ein Rekord am höchsten Berg der Welt bringt ein Alleinstellungsmerkmal, das sich vermarkten lässt. Das weiss auch Egloff. Doch er sagt: «Der Druck war hoch, ich bin froh, dass ich in dieser Sportart nicht mehr zu den Jungen gehöre.»
Egloff spricht von einer komplizierten SaisonDie Saison am Everest geht bis Ende Mai; dann bringt der Monsun von Süden her heftige Niederschläge in den Himalaja. In diesem Jahr hiess es obendrein, ein Zyklon sei im Anzug. Ausserdem wird der gefürchtete Khumbu-Gletscher wegen steigender Temperaturen noch gefährlicher. Es sei eine komplizierte Saison gewesen, sagt Egloff, ohne einen idealen Gipfeltag mit stabilem Wetter und wenigen anderen Bergsteigern.
Egloff ahnte wohl bereits in der vergangenen Woche, dass der Everest in diesem Jahr keinen Rekordversuch zulassen würde. Es sei schwierig gewesen, in den letzten sieben Tagen den Glauben an den Erfolg zu behalten, sagt er. Vor der Abreise gibt er sich gelöst. Er sagt: «Ich wollte mich in Topform am Everest versuchen, das habe ich erreicht. Und ich kehre gesund zu meiner Familie zurück.» Und Andrews? Der überrascht am Montagnachmittag Schweizer Zeit alle.
Ursprünglich war mit dem Filmteam und den Expeditions-Veranstaltern abgemacht, dass die Kontrahenten nach dem vergangenen Sonntagabend keinen erneuten Aufstieg mehr versuchen. Doch das Wetter bessert sich überraschend. Und Andrews kündigt wenige Augenblicke vor dem Abmarsch aus dem Basislager in den sozialen Netzwerken an, er werde einen finalen Gipfelsturm versuchen.
Fit bleiben am Mount Vinson oder der Carstensz-PyramideDie Nachricht kommt im Egloff-Lager nicht sonderlich gut an. «Wir sind überrascht und konsterniert», sagt Egloff, beschwichtigt aber, ganz der Profi: «Die Erinnerungen, die ich vom Everest nach Hause nehmen werde, sind trotzdem einmalig.» Schon im Basislager und während der Besteigungsversuche gingen sich die beiden so gut es ging aus dem Weg.
Am Dienstag bleibt das Wetter stabil und einige Seilschaften erreichen bei letzter Gelegenheit doch noch den Gipfel. Unter anderem steht der Nepali Kami Rita Sherpa zum 31. Mal auf dem höchsten Berg der Welt und schraubt seinen eigenen Weltrekord weiter in die Höhe. Andrews hingegen kommt nicht über 8400 Meter hinaus und dreht um. Er befindet sich immer noch im Abstieg.
Egloff lässt kurz vor der Rückreise offen, ob er am Everest einen neuerlichen Rekordversuch unternehmen wird. «Wenn, dann würde ich es von der Nordseite probieren, dort hat es weniger Leute als in Nepal», sagt er. Die chinesischen Behörden verbieten von Tibet her Aufstiege ohne Flaschensauerstoff. Egloff hofft, dass er irgendwann eine Ausnahmegenehmigung erhalten wird.
In der Zwischenzeit versuche er sich vielleicht an den Bergen der Seven Summits, die ihm nebst dem Everest noch fehlen: am Mount Vinson in der Antarktis und der Carstensz-Pyramide in Ozeanien. «Ich will fit bleiben», sagt Egloff.

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