Frankreich taumelt, doch die Finanzmärkte setzen auf Mario Draghis Versprechen


Sarah Meyssonnier / Reuters
Es war ein Kollaps mit Ansage. Der Blick auf die Mehrheitsverhältnisse deutete seit Wochen darauf hin, dass der französische Premierminister François Bayrou keine Chance hat, die Vertrauensabstimmung in der Nationalversammlung zu gewinnen. So fehlte der Regierungspartei eine Mehrheit, und die Opposition rückte nicht von ihrem Widerstand gegen die Sparpläne von Bayrou ab. An den Finanzmärkten hatte man den Regierungssturz deshalb längst vorweggenommen.
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Entsprechend gelassen haben die Märkte am Dienstag auf das Ereignis reagiert. Der Regierungssturz ist kaum ein Thema. Deutlich mehr Interesse wecken momentan das Geschehen in den USA und die Frage, wie die amerikanische Notenbank auf die Konjunkturabschwächung reagieren wird. Zwar sind die Risikoprämien für französische Staatsanleihen am Dienstagmorgen leicht gestiegen, jedoch in einem Ausmass, wie dies nicht aussergewöhnlich ist.
Ruhige Märkte sind indes keine hinreichende Bedingung für ein stabiles Frankreich. Dazu braucht es auch ein Mindestmass an finanzpolitischer Vernunft. Und diese lässt das Land seit Jahren vermissen. Wer als Regierungschef etwas ändern will daran, wird zuverlässig abgestraft. In Europa geht daher die Angst um, die zweitgrösste Volkswirtschaft der Euro-Zone könnte den ganzen Währungsraum mit in die Tiefe ziehen. Wie begründet ist diese Furcht vor einer neuen Euro-Schuldenkrise?
Beunruhigend ist die Dynamik: So lag Frankreichs Schuldenquote noch im Jahr 2019 unter 100 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP). Seither ist sie auf über 113 Prozent geklettert, womit Frankreich nach Italien und Griechenland die dritthöchste Verschuldung im Euro-Raum aufweist. Eine Trendwende ist nirgendwo absehbar, zumal das Defizit im Staatshaushalt tiefrot ausfällt. Im vergangenen Jahr lag es bei fast dem Doppelten der von der EU erlaubten 3-Prozent-Grenze.
Solche BIP-Quoten wirken abstrakt und sind schwer mit der konkreten Lebenswelt in Verbindung zu bringen. Anschaulicher ist die folgende Zahl: So ist in Frankreich seit 2019 die Staatsverschuldung pro Kopf um über 15 000 Franken gestiegen. In Griechenland, dessen Schuldenkrise vor zehn Jahren fast zum Staatsbankrott führte, was dieser Tage oft als mögliches Zukunftsszenario von Frankreich präsentiert wird, liegt der Betrag deutlich niedriger bei 3400 Euro.
Höhere Zinsen als GriechenlandOb Frankreich dem griechischen Pfad folgen wird, entscheidet in erster Linie die Politik. Aber auch dem Finanzmarkt kommt eine zentrale Rolle zu. Verlangt dieser hohe Zinsen zur Schuldenfinanzierung, diszipliniert dies zwar die Politik. Gleichzeitig kann die Finanzlage aber rasch kritisch werden. Tatsächlich sind die Risikoaufschläge auf Staatsanleihen aus Frankreich jüngst gestiegen. So zahlt Frankreich bereits höhere Zinsen als Griechenland, und der Abstand zu Italien ist nahezu verschwunden.
Dabei sind jüngst vor allem Schuldpapiere mit sehr langer Laufzeit unter Verkaufsdruck geraten, was steigende Renditen impliziert. So notierte vergangene Woche eine dreissigjährige Schuldverschreibung des französischen Staates mit 4,5 Prozent. Das entspricht dem höchsten Wert seit 2011, als Frankreich mit den Ausläufern der Euro-Krise zu ringen hatte. Die Rendite zehnjähriger Papiere kletterte zudem auf 3,6 Prozent, womit sie ungefähr das Niveau Italiens erreichte.
Die Risikoaufschläge sind inzwischen wieder gesunken. Und die Märkte zeigen sich relativ gelassen. Die Markteinschätzung auf den Punkt bringt Timothy Graf, Analyst beim Vermögensverwalter State Street. Er bezeichnet die politische Instabilität von Frankreich zwar als «ernstes lokales Problem». Er erwartet aber nicht, dass dies eine unmittelbare existenzielle Gefahr für Europa darstellt, wie er der Agentur AWP sagt. Den Vergleich mit der Euro-Krise hält er für übertrieben.
Zwei Gründe nähren die Zuversicht. Erstens scheint die Ansteckungsgefahr geringer zu sein als zur Zeit der Euro-Schuldenkrise. Die früheren Problemstaaten an der südlichen Peripherie der Währungsunion haben in den letzten Jahren beachtliche Fortschritte gemacht – allen voran Spanien und Griechenland. Deren Wirtschaften haben sich erholt, und die Staatshaushalte sind widerstandsfähiger geworden. Entsprechend gesunken ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Krise Frankreichs rasch auf Partnerländer überschwappen wird.
Mario Draghi hallt nachZweitens hallt der berühmte Ausspruch von Mario Draghi aus dem Jahr 2012 nach. Der damalige Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) erklärte, die EZB werde alles Notwendige («whatever it takes») tun, um den Euro zu retten. Das ungedeckte Versprechen gilt als Wendepunkt der Euro-Krise und trug dazu bei, die Märkte zu beruhigen. Die Folge: Bis heute herrscht Konsens am Markt, dass die EZB auch eine von Paris ausgehende Euro-Krise mit schwerem Geschütz bekämpfen würde.
Die EZB verfügt hierzu über griffigere Mittel als noch in der Euro-Krise, etwa das Transmission Protection Instrument (TPI). Dieses 2022 beschlossene und noch nie zum Einsatz gekommene Programm ermöglicht es der EZB, unbegrenzt Staatsanleihen zu kaufen, um «ungerechtfertigten, ungeordneten Marktentwicklungen entgegenzuwirken». Die EZB kann dies nach eigenem Ermessen tun, und Frankreich müsste im Gegenzug nicht einmal Reformauflagen erfüllen.
Mit solchen Käufen könnte die EZB die Renditeaufschläge drücken und Frankreich wieder zu attraktiveren Finanzierungsbedingungen verhelfen. Damit würde die EZB aber das Verbot der monetären Staatsfinanzierung zumindest ritzen. Ausserdem hätte dies eine heikle Anreizwirkung zur Folge. Jörg Krämer, Chefökonom der Commerzbank, betont, dass die EZB durch eine faktische Finanzierungsgarantie die Staaten letztlich dazu animieren würde, mehr Schulden aufzunehmen.
Krämer ist überzeugt, dass die EZB zwar über das Instrumentarium verfügt, um trotz massiv steigenden Schulden das Risiko einer neuen Krise einzudämmen. «Aber das ginge mit einer Deformation der Währungsunion einher, die in letzter Konsequenz das politische Fundament des Euro-Raums gefährdet.» Wobei man beim Blick auf die gelassene Reaktion der Börse den Eindruck gewinnt, dass die Märkte diese Deformation längst als selbstverständlich betrachten.
nzz.ch