Nach einem Sturm oder einer Dürre ermitteln Forscher die Rolle des Klimawandels – ein Detektivspiel mit Tücken


Im September 2024 standen Teile Österreichs, Tschechiens und Polens meterhoch unter Wasser. Tagelang hatte das Tiefdruckgebiet «Boris» seine Regenwolken über der Region kreisen lassen. Die Wassermassen waren noch nicht abgeflossen, da zogen viele Medien schon eine Verbindung zur globalen Erwärmung. Zu Recht? Die Debatte ist verzwickt.
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Es ist logisch, dass der menschengemachte Klimawandel sich auf das Wetter und damit auch auf die Wetterextreme auswirkt. Stürme, Hitzewellen und Dürren treten schliesslich nicht unabhängig vom Klima auf. Nach jedem Wetterextrem kann man darum die Frage stellen, auf welche Art und Weise es vom Klimawandel beeinflusst wurde. Hat er das Extremereignis stärker oder schwächer gemacht? Hat er solche Ereignisse seltener oder häufiger gemacht? Im Rahmen der sogenannten Event-Attribution suchen Klimaforscher nach Antworten.
Die Resultate dieses Forschungszweigs lösen immer wieder Debatten aus. Die Forscher haben ihre Methoden immer mehr verfeinert – aber die Resultate sind nach wie vor mit Unsicherheit behaftet. Woran es zuweilen hapert, ist die öffentliche Kommunikation. In einzelnen Fällen gab es Übertreibungen.
Wie stark ist der Einfluss des Klimawandels?Der Forschungszweig entstand vor rund zwanzig Jahren. Anfangs zögerten viele Klimawissenschafter. Sie zweifelten daran, ob es wirklich notwendig war, gewagte Aussagen über seltene Einzelereignisse zu treffen. Doch längst hat sich die Event-Attribution etabliert.
Die Grundfrage «Wie stark hat der Klimawandel ein Wetterextrem beeinflusst?» beantworten Forscher mit Klimamodellen und Messdaten. Sie vergleichen das heutige Klima mit demjenigen Klima, das vor Beginn der globalen Erwärmung geherrscht hat. Für beide Zeiten fertigen sie etliche Modellsimulationen an und konsultieren Beobachtungsdaten. Aus der Differenz schliessen sie dann, wie gross der Einfluss des Klimawandels gewesen sein könnte.
Beim Tief «Boris» zum Beispiel kamen Wissenschafter zu dem Schluss, dass der Klimawandel die Intensität der Regenfälle um ungefähr sieben Prozent verstärkt hat.
Diese Detektivarbeit ist allerdings anspruchsvoll. «Das Problem mit diesen Wetterextremen ist, dass sie selten sind», sagt der Meteorologe Jacopo Riboldi von der ETH Zürich. Es sei darum schwierig, Veränderungen der Häufigkeit oder der Intensität einigermassen genau zu bestimmen.
Mit der Definition des Ereignisses ändern sich die ResultateEine grosse Unsicherheit geht von der Entscheidung aus, wie man das zu untersuchende Wetterextrem definiert. Denn das liegt nicht auf der Hand, wie das Beispiel Hitzewellen zeigt: Betrachtet man einen einzelnen Ort mit besonders hohen Temperaturen, wirkt das Ereignis extrem und entsprechend selten. Untersucht man den Verlauf der Hitzewelle in einer grösseren Region, wirkt das Ereignis moderater und gewöhnlicher.
Salvatore Di Nolfi / Keystone
Eine andere wichtige Frage ist die nach der Kommunikation. Oft geben die Forscher zwei Zahlen bekannt: wie stark sich die Wahrscheinlichkeit verändert hat, dass ein Wetterextrem eintritt, und wie stark sich dessen Intensität verändert hat – bei einer Hitzewelle zum Beispiel die Höchsttemperatur.
Gerade bei der Kommunikation der Wahrscheinlichkeit komme es immer wieder zu Missverständnissen, erläutert Douglas Maraun von der Universität Graz, der selbst schon an Attributionsstudien beteiligt war. «Wenn Laien hören, eine bestimmte Hitzewelle hätte es ohne den Klimawandel nicht gegeben, dann denken sie, es hätte überhaupt keine Hitzewelle gegeben.» Doch das stimme nicht. In Wirklichkeit wäre auch ohne Klimawandel eine Hitzewelle aufgetreten – bloss mit niedrigeren Temperaturen.
Im Zweifelsfall ist die Intensitätsänderung ohnehin die sinnvollere Information. Bei der Berechnung der Wahrscheinlichkeit ergäben sich oft extreme Zahlen mit einer riesigen Fehlermarge, sagen mehrere Forscher übereinstimmend.
Klimamodelle haben Schwierigkeiten mit der WetterdynamikEvent-Attribution wird oft mit einer Methode betrieben, die pauschale Aussagen zum Einfluss des Klimawandels erlaubt, etwa zur Wahrscheinlichkeit von Wetterextremen. Doch diese Methode hat einen Nachteil: Alle Veränderungen des Klimas werden in einen Topf geworfen.
Dabei ist der Klimawandel vielschichtig: Einerseits ist es schlicht wärmer geworden, andererseits haben sich dadurch auch die Luftströmungen verändert. Den Wandel der Luftströmungen können Klimamodelle aber oft noch nicht gut wiedergeben. Und das verzerrt in der Attributionsforschung dann die Resultate.
Davide Faranda, ein Fachmann für Wetterextreme vom Institut Pierre-Simon Laplace des französischen Forschungszentrums CNRS, gibt ein Beispiel: In Westeuropa sei es noch wärmer geworden als erwartet, und das hänge auch mit veränderten Luftströmungen über dem Nordatlantik zusammen. Wie sich diese Luftströmungen im Zuge des Klimawandels änderten, könnten die Modelle aber nicht reproduzieren. In der Folge unterschätzen sie, wie häufig extreme Hitzewellen in Westeuropa inzwischen auftreten können.
Der Blick für Details soll die Attribution besser machenKlimaforscher haben darum vor einigen Jahren eine neue Methode ersonnen: den sogenannten Storyline-Ansatz. Das Ziel ist, die spezifischen Umstände herauszuarbeiten, die zu einem Wetterextrem geführt haben.
Das Tiefdruckgebiet «Boris» wurde zum Beispiel auch deshalb so stark, weil es sich so langsam bewegte und weil es mehrere Feuchtequellen in der Umgebung gab – unter anderem das warme Mittelmeer. Diese Faktoren trugen zu den heftigen Niederschlägen und zu den Überschwemmungen bei.
Solche Details sollten in Attributionsstudien in Zukunft stärker berücksichtigt werden, sagen Jacopo Riboldi und sein ETH-Kollege Robin Noyelle – sie haben die Vor- und Nachteile von Attributionsstudien anhand von Simulationsdaten analysiert. «Man liefert dann nicht nur eine Zahl, sondern lernt tatsächlich wissenschaftlich etwas dazu», sagt Noyelle.
Ein Wetterextrem wird innerhalb von 24 Stunden eingeordnetDie Event-Attribution hat Schule gemacht. Fast jede Woche erscheint eine neue Studie. Diese Art der Forschung läuft mit dem gewohnten gemächlichen Tempo der akademischen Welt: Bis eine Arbeit veröffentlicht ist, dauert es Monate, wenn nicht Jahre.
Doch die Öffentlichkeit ist ungeduldig, sie will sofort Antworten haben. Im Idealfall schon dann, wenn das Wetterextrem noch im Gange ist. Zwei Forschergruppen – World Weather Attribution (WWA) und Climameter – versuchen sich darum seit ein paar Jahren in einer Art Expressvariante der Event-Attribution. Sie versprechen, innerhalb von wenigen Tagen die Rolle des Klimawandels einschätzen zu können.
Grundsätzlich ergänzen sich die beiden Gruppen: WWA schätzt ab, wie stark der Klimawandel als Ganzes ein Wetterextrem verändert hat, während Climameter mit dem Storyline-Ansatz vor allem untersucht, wie sich einzelne Aspekte des Wetterextrems verändert haben. «Es ist gut, mehrere Methoden miteinander vergleichen zu können», sagt Davide Faranda, der vorwiegend in der Gruppe Climameter mitwirkt.
Gelegentlich lösen die schnellen Attributionsstudien aber Skepsis aus. In manchen Berichten von WWA sei die Tendenz zur Übertreibung zu erkennen, sagt Robin Noyelle.
Wenn die Unsicherheit nicht in den Medien ankommtEin Beispiel für eine Attributionsstudie, die in die Kritik geriet, war der WWA-Bericht zu den Waldbränden von Los Angeles im Januar dieses Jahres. In einer Medienmitteilung verkündete die Forschergruppe, der Klimawandel habe Wetterlagen, die Brände begünstigten, um «ungefähr 35 Prozent» wahrscheinlicher gemacht.
Was in der Medienmitteilung nicht stand: Diese Prozentangabe war ziemlich unsicher. Die Klimamodelle lieferten der WWA-Gruppe zwar grundsätzlich ähnliche Resultate, aber die Spanne der möglichen Werte war recht gross. Diese Unsicherheit konnte aber nur erkennen, wer den Bericht las, der der Medienmitteilung zugrunde lag. Viele Medien gaben die Prozentzahl ohne Einordnung wieder und liessen das Wort «ungefähr» weg.
Sjoukje Philip vom staatlichen Wetterdienst der Niederlande, die in der WWA-Gruppe mitwirkt, erläutert auf Anfrage der NZZ, warum die Resultate zu den Waldbränden auf diese Weise kommuniziert worden sind. In den gemessenen Wetterdaten habe man einen sehr ähnlichen Trend gefunden wie in den Modellergebnissen. Wegen dieser Übereinstimmung habe sich die WWA-Gruppe entschlossen, nur eine einzige Zahl zu nennen.
Aus Erfahrung wisse man, dass die Kommunikation von Unsicherheit die Öffentlichkeit von der Botschaft ablenken könne, sagt Philip. Es sei immer ein Balanceakt: Würde die Unsicherheit zu stark betont, könnte dies den Eindruck vermitteln, dass man gar nichts aussagen könne.
Die Attribution dient auch GerichtsprozessenLängst hat die Event-Attribution Konsequenzen, die weit über die wissenschaftliche Neugier hinausreichen. Neuerdings werden die Ergebnisse sogar vor Gericht verwendet. Umweltorganisationen verklagten mehrere Firmen und Länder, weil diese mit ihren Emissionen zu Wetterextremen beigetragen hätten, und als Argumente führen sie Zahlen aus Attributionsstudien ins Feld.
Diese Verwendung der Forschungsergebnisse sei aber nicht ihr Antrieb für Event-Attribution, sagt Sjoukje Philip. Sie wolle vielmehr Menschen helfen, Wetterextreme besser zu verstehen und sich auf künftige Ereignisse vorzubereiten.
nzz.ch