SERIE - People-Pleaser wollen immer nur andere zufriedenstellen. Wie man endlich seinen eigenen Bedürfnissen Raum gibt
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Illustration Jasmin Hegetschweiler/ NZZ
Der Arbeitskollege lehnt im Türrahmen des Büros und schwärmt von seinem neuen Dampfgarer. Die Frage, ob Essenszubereitung in diesem Moment für sein Gegenüber interessant ist, stellt sich offensichtlich nicht für ihn. Eigentlich wollte man arbeiten, doch der Kollege nimmt gerade erst Fahrt auf. Was also tun? Die kostbare Zeit schützen? Oder höflich weiternicken in der Hoffnung, dass er von selbst zum Ende kommt?
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In dieser vierteiligen Serie geben wir Anregungen, wie Sie mit sich selbst etwas mehr ins Reine kommen: den psychisch belastenden Perfektionismus loslassen, die kritische innere Stimme zähmen, Grenzen setzen und Selbstakzeptanz lernen.
Ein klassisches Dilemma. Wer es allen recht machen will, verrät oft sich selbst und seine Grenzen. Wer hingegen Nein sagt, enttäuscht Erwartungen und riskiert, dass sich Menschen abwenden. Beide Optionen münden in einem unerwünschten Zustand.
Viele Menschen entscheiden sich in so einer Zwickmühle für das Wahren der Harmonie und wissen später alles über das Dampfgaren, aber nichts über den Aufbau ihrer Präsentation. Die Angst, jemanden vor den Kopf zu stossen und daraufhin abgelehnt zu werden, sitzt tief. Als soziale Wesen streben wir danach, verträglich, kooperativ und umgänglich zu sein.
Menschen, die ihr Gegenüber unter allen Umständen zufriedenstellen wollen und dabei wirklich ständig ihre eigenen Bedürfnisse zurückstellen, nennt man People-Pleaser. Der Begriff stammt aus dem angloamerikanischen Sprachraum und erlangte in der populärpsychologischen Selbsthilfeliteratur grosse Bekanntheit.
Auch wenn People-Pleasing keine offizielle Diagnose darstellt, die im Stichwortregister psychologischer Standardwerke auftaucht, kennen Psychologen die Tücken mangelnder Abgrenzung.
Grenzen setzen: eine lebenslange Lernaufgabe«Diese Menschen laufen Gefahr, überrannt und nicht gehört zu werden», sagt Alexander Grob. Der Professor für Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologie an der Universität Basel weiss, welchen Stellenwert das Thema «Grenzen setzen» für die menschliche Identitätsentwicklung hat.
Und er sagt: «Um Grenzen setzen zu können, muss ich erst einmal wissen, wo meine Grenzen liegen.» Warum manche das leichter erkennen als andere? Das hat auch mit der Kindheit zu tun. Wer schon früh die Erfahrung mache, dass grundlegende Bedürfnisse wie Ruhe, Privatsphäre oder Autonomie befriedigt würden, dem falle es später leichter, für sich einzustehen.
Schwerer hätten es hingegen Kinder, deren Bedürfnisse vernachlässigt, beschämt oder bestraft worden seien. Sie lernten nach und nach, ihre Bedürfnisse zu unterdrücken. Ihnen fällt es laut Alexander Grob im Erwachsenenalter schwerer, zu spüren, was sie brauchen.
Ein fiktives Beispiel: Julia, eine berufstätige junge Frau, hat einen anstrengenden Tag bei der Arbeit hinter sich und fühlt sich erschöpft. Ihre Mutter ruft an und beginnt sofort, über ihre eigenen Probleme zu sprechen, ohne zu fragen, wie es Julia geht. Sie erwartet von Julia, dass diese ihr zuhört und sie emotional unterstützt. Doch Julia würde sich gern ausruhen. Obwohl sie versucht, das Gespräch höflich zu beenden, redet ihre Mutter weiter.
Als Julia klar ankündigt, dass sie jetzt auflegen und sich ausruhen werde, reagiert ihre Mutter vorwurfsvoll. Sie unterstellt ihrer Tochter, nur an sich zu denken und sich nicht für die Familie zu interessieren. Als das Telefonat beendet ist, fühlt sich Julia schuldig. Hatte sie das Recht, ihre Bedürfnisse zu artikulieren?
«Ein schlechtes Gefühl zu haben, bedeutet nicht immer, dass man die falsche Entscheidung getroffen hat», sagt Alexander Grob dazu. Dieser Trugschluss begegne ihm häufig. Jede grundlegende und tiefe Entwicklung gehe mit ambivalenten Gefühlen einher. Je früher Betroffene dies akzeptierten, desto leichter falle es ihnen, unangenehme Gefühle – wie Schuld – auszuhalten.
Wer schon einmal versucht hat, alte Muster zu durchbrechen, weiss, wie unfair es sich anfühlen kann, nicht nur Mitmenschen zu enttäuschen, sondern zudem von Schuldgefühlen geplagt zu sein. Gerade Perfektionisten kämen damit schlecht klar, sagt Alexander Grob. Deren Mantra laute, alle Ansprüche zu erfüllen.
Es überrascht nicht, dass People-Pleaser dieses Gefühlschaos vermeiden wollen und sich lieber anpassen. Doch das hat seinen Preis: Denn wer sein Bedürfnis nach Ruhe, Selbstbestimmung und Nähe oder Distanz systematisch ignoriert, fühlt sich irgendwann ausgebrannt und überfordert.
Statt bewusst Grenzen zu setzen und für ihre Bedürfnisse einzustehen, nehmen die Betroffenen unangenehme Situationen hin und manövrieren sich so über Jahre in die komplette Erschöpfung hinein. Wo also ist der Ausweg? «Im Zweifel immer mitten durch die Emotionen», sagt Alexander Grob.
Schuldgefühle also einfach aushalten? «Es kann in solchen Momenten helfen, sich in Erinnerung zu rufen, welches Bedürfnis man mit seinem Nein geschützt hat», sagt Alexander Grob. In dem fiktiven Beispiel wollte Julia, die berufstätige Tochter, ihren Wunsch nach Ruhe schützen. Ein legitimes Bedürfnis.
Wie man für eigene Bedürfnisse einstehtWer sich für seine eigenen Bedürfnisse einsetzt, profitiert. Das erkannten auch zwei amerikanische Psychologen in den 1950er Jahren. Die Forscher Joseph Wolpe und Andrew Salter entwickelten damals eine Technik, die Menschen dabei helfen sollte, ohne Angst für sich einzustehen: Es war die Geburtsstunde des sogenannten Assertiveness-Training-Programms – kurz ATP.
Dieses Trainingskonzept hilft Menschen dabei, das eigene Selbstvertrauen zu stärken. Die deutschen Psychologen Rüdiger Ullrich und Rita Ullrich-de Muynck haben das Ursprungskonzept des ATP in den 1970er Jahren weiter ausgearbeitet und feinjustiert.
Um die Unsicherheit der Probanden zu bekämpfen, haben sich die Forscher für diese 127 sozial herausfordernde Situationen ausgedacht, die diese in Rollenspielen üben mussten. Anschliessend sollten sie die Aufgaben im Alltag umsetzen.
Übungssituation Nummer 1 erscheint wenig herausfordernd: Sie sieht vor, dass die Übungsteilnehmer eine freundlich erscheinende Passantin ohne Unterwerfungsgesten nach dem Weg fragen.
Doch der Schwierigkeitsgrad erhöht sich allmählich. Bei Übung 45 betritt man ein schickes Schuhgeschäft, probiert unterschiedliche Modelle an und verlässt den Laden, ohne etwas zu kaufen. Übung 48 besteht darin, einen Menschen an der Kasse zu bitten, einen vorzulassen. Bei Übung 125 gilt es, manipulatives Verhalten zu erkennen und zu adressieren. Es gehört auch zum Programm, vermeintlich dumme Fragen zu stellen, auf aufdringliches Verhalten zu reagieren oder die eigene Meinung in der Öffentlichkeit zu äussern.
Grob umfassen die Übungen folgende Arten sozialer Kompetenzen: Forderungen stellen, Nein sagen und kritisieren, Kontakte herstellen, sich öffentlicher Beachtung aussetzen und sich Fehler erlauben.
Die Teilnehmer sollen lernen, auszuhalten, wenn andere sie kritisieren oder sie selbst Fehler machen. Sie erfahren, dass es möglich ist, eigene Bedürfnisse anzumelden und Forderungen zu stellen. Und sie lernen, sich abzugrenzen, ohne zu befürchten, abgelehnt zu werden. Das alles erfordert Übung.
Doch wie bei jedem Training bestehe die Gefahr, übers Ziel hinauszuschiessen, so Alexander Grob. Vor allem am Anfang.
Gerade Menschen, denen es schwerfalle, Grenzen zu setzen, neigten dazu, übermässig hart und unfreundlich aufzutreten, wenn sie es doch einmal täten, erklärt der Psychologe. Wer aber sein Gegenüber anschreit oder sogar den Kontakt komplett abbricht, beraubt sich vieler Möglichkeiten.
Erstens sinkt die Bereitschaft der schroff Zurechtgewiesenen, Grenzen zu achten. Und zweitens steigt die Gefahr aufseiten derjenigen, die die Grenze gezogen haben, sich später selbst zu geisseln. Teilweise erfolgt dann der Versuch, den Wutausbruch durch besonders nachsichtiges und mildes Verhalten wieder gutzumachen.
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Alexander Grob empfiehlt etwas anderes: Wer nachhaltig lernen will, Grenzen zu ziehen, sollte versuchen, freundlich im Ton, aber hart in der Sache zu bleiben. «Ausserdem dürfen wir uns ruhig einmal von dem Gedanken leiten lassen, dass nicht jeder Mensch absichtlich unsere Grenzen verletzt», sagt er. Denn selten wollen alle Beteiligten zum selben Zeitpunkt dasselbe. Der eine will seine Ruhe, der andere Nähe. «Dann haben wir vielleicht einen Bedürfniskonflikt, mögen uns aber trotzdem», sagt er und ergänzt: «Wenn ich Ja zu mir selbst sage und freundlich Nein zu meinem Gegenüber, dann sollte das akzeptiert werden.»
Schuldgefühle und Ängste gehörten dazu, wenn man beginne, Grenzen zu ziehen. Sie würden mit der Zeit jedoch weniger. Und das ist doch eine Perspektive. Denn die Alternative ist weit weniger attraktiv. Wer keine Grenzen setzt, sagt trotzdem permanent Nein: zu sich selbst.
Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»
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