Begegnung mit Neo Rauch und seiner Kunst: Das ist nicht reaktionär, das ist ein Wunder!

Wie kann sich ein Mann mit seinem Werk so tief ins Herz beißen? Eine Begegnung mit Neo Rauch und seinen Gemälden in Leipzig.
Wer vor Neo Rauch steht, spürt eine Zugewandtheit, die so anziehend wirkt wie ein Magnetfeld. Man trifft keinen Mann, der wütend ist, der sich abarbeiten will an seinen Kritikern, sondern einen feinsinnigen Grübler, der verzweifelt an der Welt und mit seinen Gedanken und Gefühlen gegen das Sturm läuft, was man gerne als Wirklichkeit bezeichnet.
Wenn er vor einem steht, dieser Maler aus Leipzig, ein gar nicht so groß gewachsener Mann, zugleich einer der größten Maler der vergangenen und aktuellen Gegenwart, ein Gigant, übergroß in seiner Bedeutung in der Kunstwelt, der Repräsentant der Neuen Leipziger Schule, einer der wichtigsten deutschen Maler überhaupt, und später zart und nachdenklich durch sein lichtdurchflutetes Atelier spaziert, in dem Staubkörner funkelnd durch die Sonnenstrahlen gleiten, nachdenklich sinnierend und skeptisch dreinschauend, dann kann man gar nicht anders als glauben, dass diese sogenannte öffentliche Meinung, diese brutale Meinung vor allem in Deutschland mit ihrer Vorstellung vom spröden Neo Rauch einem riesigen Missverständnis zum Opfer gefallen ist.
Ja, was wäre, wenn Neo Rauch etwas fühlt und sieht, was wir nicht sehen, was wir aber genauso fühlen wie er? Wenn er also, nennen wir es die visionäre Kraft der Kunst, uns etwas spiegelt, was uns nachts wach hält und manchmal auch am Tage verzweifeln lässt? Ein Unbehagen, das sich breit macht und sich in den Bildern von Neo Rauch materialisiert, hervorscheint wie eine Naturgewalt, plötzlich sichtbar und fühlbar, vor uns sich aufbäumend, wie das „Es“ aus der Seele, das in diesen Bildern kein Halten mehr kennt und uns nun unwiederbringlich, unwiderstehlich aus der Bahn wirft? Wenn das so wäre, dann wäre Neo Rauch nur der Kanal für eine Gewissheit, für eine unumstößliche Erkenntnis, die von der Vergänglichkeit der Zeiten zeugt, die uns Angst macht, und die wir nicht Neo Rauch vorzuwerfen haben, sondern uns selbst.
Diese gewaltigen Werke von Neo RauchIch erkenne in Neo Rauch nichts Reaktionäres. Ich erkenne in Neo Rauch einen Mann, der es schwer hat, mit der Idiotie einer phrasenhaft beladenen Realität fertigzuwerden. Der in seinen Bildern entgleitet in eine Sphäre, die sich abwendet vom Klischee und eintaucht in einen Kosmos unhintergehbarer Dringlichkeit, in der die Vergangenheit zu wüten scheint wie ein Sturm und die als Sturm sich vorkämpft über die Gegenwart bis in die Zukunft hinein. Und das tut weh.
In der neuen Ausstellung in Leipzig mit dem Titel „Stille Reserve“ in der Spinnerei in Leipzig erlebt man die Kunst von Neo Rauch als gewaltigen Protest gegen die Trivialität der Zeit. Natürlich sind das Gefühle, die man nicht zu stark universalisieren darf, nicht zitieren darf für den Anspruch jedes einzelnen Betrachters. Und doch scheint es da ein Leitmotiv zu geben, das sich skeptisch zeigt gegenüber dem Fahlen und Schalen, dem Anspruchslosen der Gegenwart – einer Gegenwart übrigens, die in den Bildern von Neo Rauch aus den Fugen zu geraten scheint, wie wir selbst ja auch, manchmal nachts, oder eben jetzt am Tag, vor diesen Bildern, vor diesen gewaltigen Werken.

Wer es nicht schafft, mit Neo Rauch umzugehen, diese ins Herz stechenden Gemälde zu ertragen, muss sich die Frage gefallen lassen, ob er die eigenen Abgründe ebenso nicht aushalten kann. Wer würde es wem verübeln? Ein Umgang mit dem Abgrund kostet Kraft, das wissen wir ja, und diese Kraft nimmt Neo Rauch für uns auf. Wer das nicht versteht und Rauch in Verruf bringt, missversteht ihn moralisch, zieht seine Kunst ins Triviale hinab – eine Kunst, die sich vom Profanen abstoßen will und eine andere, mystische Sprache spricht, die wir nur intuitiv verstehen, am stärksten nachts. Kein Wunder, dass Neo Rauch nicht mehr sprechen, sich nicht mehr äußern will, nicht zu seinen Haltungen, die sich nicht geändert haben, die sich fest eingerichtet haben wie der ästhetische Begriff in seiner Kunst, unverhandelbar seit den 1990er-Jahren. Das ist mutig. Das ist Haltung. Das ist das, was Menschen haben, wenn sie wissen, wie sie eingerichtet sind. Während die einen sich ändern, vom Zeitgeist befallen, gestern Pazifisten, heute Militaristen (oder was auch immer), bleibt Neo Rauch bei sich stehen, allein mit seinen Überzeugungen und Gefühlen, die ihm, und das ist der Preis, immer wieder schlaflose Nächte bereiten.
Aber wer kann schon nachts gut schlafen bei all dem, was passiert, was man erlebt und spürt als Mensch, heute und jeden Tag? Wie kann man überhaupt Schlaf finden in einer Welt, die so schnell rotiert und so viele grässliche Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten erzeugt, dass einem schwindelig wird? Manchmal ist das Grässliche in der Kunst von Neo Rauch ganz präsent, bunt und plakativ: die Angst, die einen befällt, wenn man die Kontrolle verliert; der Tritt, wenn man vor anderen entgleitet, keinen Halt mehr hat, hineinfällt ins Bodenlose der Zeit. Das ist der Wahnsinn. Bei Neo Rauch wird man erinnert an den Kontrollverlust, an die Unfassbarkeit der zeitlichen Abläufe, auch an die unveränderbare Vergangenheit, die sich in seinen Werken von hinten anpirscht, unerwartet und hinterlistig zupackt und zuschlägt und von ganz weit weg tief hinein in die nackte Gegenwart greift – und auch die Zukunft befleckt. Und das ist der eigentliche Skandal, diese Tatsache, dass sie da ist und nicht weggeht, diese Vergänglichkeit.

So muss zu erklären sein, dass die skandalösen Werke von Neo Rauch, gerade seine aktuellen Werke in dieser Ausstellung, das Grelle ins Dunkle ziehen, als würde das eine das andere belagern, plötzlich infizieren, als wäre das Urteil längst gesprochen. Wie soll man das aushalten? Vielleicht mit einem Wodka in der Hand?
Neo Rauch verfügt über die stillen Reserven, um uns mit dieser Macht und Kraft seiner Gedanken in seiner Kunst zu konfrontieren. Das Bild, das auch der Leipziger Ausstellung ihren Titel gegeben hat („Stille Reserve“, 2024, 250x300 cm), ist so eine typische Anmaßung der Rauch‘schen Messerstiche ins Unbewusste. Man sieht zwei Männer, in historische Uniformen gekleidet, wie Reservisten im Militär, die einen Stab mit einem grell leuchtenden Andreaskreuz in den Boden rammen und sich dieser Aufgabe derart ernst widmen, als gehe es ums blanke Überleben. Nur zu, es geht.
Was aber bedeutet dieses Andreaskreuz, das vor alltäglichen Bahnübergängen hängt, um den Vorrang des Schienenverkehrs anzuzeigen? Ist es eine Anspielung auf das große Rauch-Trauma, das Zugunglück, bei dem seine Eltern, als er gerade geboren war, ums Leben kamen? Wer steht vor dem Gemälde und denkt hier nicht an Tod? Wer nicht an Einsamkeit? Und wer wohl an die Kreuzigung Christi? Die Frau im Bild vielleicht, die nicht weniger entschlossen dem Schicksal trotzt. Der dunkle Himmel leuchtet so düster, als würde jedes Aufbegehren vergebens sein. Auch die Energie des hell aufleuchtenden Blitzes mag keine Hoffnung verbreiten, außer die des letzten Gerichts vielleicht.
Mutige, die bei sich stehen bleiben könnenKann man anders als niederknien vor dieser Kunst, die einen Äther zu berühren scheint, den wir nur erahnen können, den Neo Rauch in seiner Kunst anzuzapfen weiß als Überbringer einer für uns nie ganz klaren und dennoch beunruhigenden Nachricht, als ein Botschafter, den man nicht verurteilen darf? Verurteilen für was? Für Talent? Für Handwerk? Für Visionen, die wehtun?Und dann steht er wieder da, Neo Rauch, im Atelier, will sich nicht erklären, vertraut darauf, dass die Bilder mehr wissen als er, dass sie lauter sprechen, viel lauter, als er es je könnte, und davon zeugen, dass es Hybris ist, für alles und für jeden einen Namen zu haben, ein Etikett zu finden, einen Titel. Und das ist ja gerade der Witz. Das ist für die Dummen, das ganze Plakatieren und Etikettieren, davon soll uns Rauchs Kunst befreien, und sie tut es ja, als mächtige Kraft, die viel stärker ist als alles und jedes, stärker als dieses große, sinngebende Wir, diese Gesellschaft, die oft ungerecht zu jenen ist, die den Mut haben, bei sich selber zu bleiben.
Neo Rauch: Stille Reserve. Bis 5. Juli in der Galerie Eigen+Art in Leipzig-Plagwitz, Spinnereistr. 7, Di-Sa 11–18 Uhr. Katalog „Stille Reserve“ im LUBOK Verlag Leipzig, 20 Euro
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Berliner-zeitung