«Bringt mich meine eigene Geschichte in Gefahr?» Wegen der Ereignisse in Nahost wird in Zürich eine jüdische Lesung auf unbestimmte Zeit verschoben


Am Mittwoch hätte sich im Zürcher «Moods» ein kleiner Kreis schliessen sollen. Doch aufgrund der sich zuspitzenden Lage in Nahost wurde die jüdische Lesung kurzfristig abgesagt. Es ist nicht die einzige solche Veranstaltung, die derzeit doch nicht stattfinden kann.
NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.
Bitte passen Sie die Einstellungen an.
Als die Zürcher Autorin Nadine Olonetzky fünfzehn Jahre alt war, bat ihr Vater sie zum Gespräch in den Botanischen Garten. Dort, auf einer Parkbank, hörte Olonetzky, was sie ein Kinderleben lang gespürt und doch nicht gewusst hatte: die Geschichte eines Traumas. Ihr deutsch-jüdischer Vater hatte die Shoah überlebt, war mit letzter Kraft in die Schweiz geflohen und hatte sich hier auch mit der Hilfe des Verbands Schweizerischer Jüdischer Fürsorgen (VSJF) ein neues Leben aufgebaut. Nun hätte Olonetzky beim VSJF aus der Geschichte ihres Vaters lesen sollen.
Doch «aufgrund der derzeitigen Lage in Israel und der damit verbundenen Betroffenheit in unserer Gemeinschaft» habe man sich dazu entschieden, die Veranstaltung abzusagen beziehungsweise auf einen noch nicht festgelegten Termin in der Zukunft zu verschieben, sagt die VSJF-Präsidentin Noëmi van Gelder. «Die Entscheidung ist uns schwergefallen. Gerade das Thema der Lesung hätte in diesen Tagen besondere Bedeutung gehabt», fährt Gelder fort.
Von der Wiedergutmachung«Wo geht das Licht hin, wenn der Tag vergangen ist» erzählt davon, wie die mittlerweile 63-jährige Olonetzky für ihre Verwandten, die den Holocaust nicht überlebt hatten, und auch für den Vater, der ebenfalls litt, Stolpersteine beantragen wollte: Erinnerungsplaketten für die Opfer der Shoah, die an deren letztem deutschem Wohnort ins Strassenpflaster eingelassen werden. Dabei stiess sie auf den jahrzehntelangen Briefwechsel ihres Vaters mit verschiedenen deutschen Institutionen.
Der Grossteil der Korrespondenz ging an das Landesamt für Wiedergutmachung, mit dem der Vater über 24 Jahre lang um eine finanzielle Entschädigung für die Verluste kämpfte, die er und seine Familie durch die Nationalsozialisten erlitten hatten. Aus Olonetzkys Recherche in der Vergangenheit ihrer Familie, den Korrespondenzen mit Ämtern und Verwandten, den Unterlagen der Schweizer Fremdenpolizei, eigenen und fremden Erinnerungen wurde ein Buch; Anfang Jahr wurde es mit dem Schweizer Literaturpreis 2025 des Bundesamts für Kultur ausgezeichnet.
Sicherheitslage spielt eine RolleDie Zürcher Veranstaltung ist nicht die einzige, die aufgrund der gegenwärtigen Ereignisse in Nahost abgesagt wurde. Auch die Deutsch-Israelischen Literaturtage in Berlin, die vom 19. bis zum 22. Juni hätten stattfinden sollen, wurden «nach intensiver Beratung» abgesagt, wie die Heinrich-Böll-Stiftung mitteilte. Sie ist gemeinsam mit dem Deutsch-Israelischen Zukunftsforum und dem Goethe-Institut einer von drei Veranstaltern.
Für die Absage «spielte die Sicherheitslage in Nahost eine Rolle, die persönliche Verfasstheit der Betroffenen und auch die Logistik», sagte die Stiftung gegenüber der NZZ. Weil der israelische Luftraum gesperrt ist, könnten viele israelische Literaten gar nicht anreisen.
Und auch die Feier zu Ehren des israelischen Nationalfeiertags am 24. Juni in Bern wurde aufgrund der Ereignisse in Nahost abgesagt.
Keine polizeilichen WeisungenDie Autorin Olonetzky sagt von sich, religiös sei sie nicht. «Aber ich bin dem Judentum und auch Israel sehr verbunden. Mit meiner Familiengeschichte geht das gar nicht anders.» Der Humor, das Essen, die Geschichten, das alles sei stets präsent gewesen in ihrem Leben. Immer als Bereicherung. «Kurz vor Erscheinen des Buchs wurde in Zürich ein jüdischer Mann mit einem Messer angegriffen und schwer verletzt. Damals: Was kommt da auf mich zu? Bringt mich meine eigene Geschichte in Gefahr – obwohl es im Buch auch um die Folgen für alle Opfer von Krieg und Terror geht?»
Bis zur Absage vor kurzem allerdings habe sie im Zusammenhang mit ihrem Buch nur Schönes und Berührendes erlebt. Für die Veranstaltung im «Moods» waren laut Olonetzky bereits Sicherheitsmassnahmen getroffen worden. So habe man etwa die angemeldeten Gäste überprüft, um die Sicherheit der Veranstaltung zu gewährleisten. Die Sicherheit war laut den Veranstaltern denn auch nicht der Grund für die Verschiebung. Vielmehr ging es der VSJF-Präsidentin van Gelder um die Pietät, wie sie betont.
Die Stadtpolizei Zürich sagt, man beurteile die Sicherheitslage fortlaufend und stehe in «regelmässigem Kontakt mit den Vertretern der jüdischen Sicherheit in Zürich». Konkrete polizeiliche Weisungen bezüglich jüdischer Veranstaltungen oder etwa des Besuchs einer Synagoge gebe es zurzeit keine.
Bei der Lesung mit Olonetzky, der Tochter, deren Vater sich einst in die Sicherheit der Schweiz retten konnte, sollte es um das Jüdischsein in seinen vielen Formen gehen, um Identität fernab von Religiosität, um Vergangenheit und vor allem um Vergebung.
nzz.ch