Der Dramaturg Carl Hegemann ist mit 76 Jahren in Berlin gestorben

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Der Dramaturg Carl Hegemann ist mit 76 Jahren in Berlin gestorben

Der Dramaturg Carl Hegemann ist mit 76 Jahren in Berlin gestorben

Wenn Hiobsbotschaften über das Berliner Theater hereinbrachen und man nicht weiter wusste, wenn man mal reinhören wollte in die Stimmungslage der Szene oder wenn man wissen wollte, wie das wirklich war mit Helmut Kohl am Wolfgangsee oder dem Biss eines rassistischen Polizeihundes bei der Festnahme Christoph Schlingensiefs bei der Documenta, dann rief man Carl Hegemann an.

Es war wichtig, dass man sich dafür Zeit nahm, denn die Gespräche dauerten immer etwas länger, führten zumeist in viel interessantere Themenfelder, wegen der man gar nicht angerufen hatte. Womit man auch immer rechnen konnte, war, dass man nach dem Gespräch deutlich bessere Laune hatte als vorher. Das funktionierte sogar zuletzt, als wir uns über die Sparmaßnahmen des Senats austauschten und Carl Hegemann aus dem Handgelenk ein sozialrevolutionäres Theatermodell entwickelte, bei dem Politiker und Arbeitslose gemeinsam die Bühnen der Stadt bespielen sollten, während die Kunst ins Rathaus zu verfrachten gewesen wäre. Er freute sich diebisch über die zu erwartende Katastrophe.

Er war der beste erste Zuschauer, den ein Theatermacher haben konnte

Diese Anrufe werden nun nicht mehr möglich sein. Wie die Berliner Zeitung aus dem engen Umfeld des Berliner Theatermachers, Autors und Hochschulprofessors erfuhr, ist Carl Hegemann in den letzten Tagen nach kurzer Krankheit gestorben. Mit ihm verliert Berlins Theater eins seiner besten Gehirne und sein eigentliches Herz. Mehr als jeder Intendant dies hätte können, stellte er mit völliger Freigiebigkeit sich und seine Ideen zur Verfügung, versuchte stets, Konflikte, Beschwernisse und Kunsterfahrungen auf eine intellektuelle Ebene zu heben und alle Ideen und Beteiligten, die ihm über den Weg liefen, irgendwie miteinander zu verschalten.

Carl Hegemann hatte das seltene Talent, an allem, was ihm begegnete, interessante Seiten und Anknüpfungspunkte zu entdecken und sich dafür zu entflammen. So vermochte er, nicht nur wach und schlau die politische Lage, die Feuilletons und die Debatten zu sortieren, sondern auch die Energien der Künstler, mit denen er zusammenarbeitete, sachte zu lenken, ohne sie einzuengen.

Er war der beste erste Zuschauer, den ein Theatermacher haben konnte. Man kann davon ausgehen, dass Hegemann oft mehr aus dem herauszulesen vermochte als vom Künstler selbst in dessen kühnsten Träumen hineingeschrieben, -gebaut oder -inszeniert war. Manche verwechselten seine Kommentare zu ihren Werken oder Texten mit Lob, und glaubten, dass, wenn er sehr gern auch seine eigenen Ideen lobte, Eitelkeit im Spiel war, dabei galoppierte er nur einfach bei voller Begeisterung mit seinen Assoziationen, Querverweisen auf und davon.

Seine eigentliche Wirkungsstätte war die Volksbühne

Gelingensgarantien waren ihm ein Graus, Schlingensiefs Motto vom Scheitern als Chance war bestimmt auf Hegemanns Mist gewachsen. Er war es, der Schlingensief die Stichworte hineinrief und die Nuggets, die bei den nicht immer nur brillanten, sondern manchmal auch langwierigen und verläppernden Aktionen abfielen, polierte.

Geboren wurde Hegemann 1949 in Paderborn, er studierte Philosophie, Gesellschafts- und Literaturwissenschaften in Frankfurt am Main, wurde 1979 mit einer Arbeit über Fichte und Marx promoviert. Für eine rein akademische Laufbahn dachte Hegemann wohl zu schnell, zu wild und zu ungeduldig, beim Theater braucht man solche Leute. Er war Dramaturg bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen (1988–89), in Freiburg (1989–92), Bochum (1995–96), brachte es nach dem Tod von Heiner Müller für zwei Spielzeiten als Co-Intendant ans Berliner Ensemble (1996–98).

Seine eigentliche Wirkungsstätte aber war die Volksbühne, wo er während der gesamten Castorf-Zeit (1992 -2017), allerdings mit zwei mehrjährigen Unterbrechungen die Dramaturgie beflügelte, in den letzten furiosen Jahren als Chefdramaturg. Die Zusammenarbeit mit Schlingensief begann 1997, bis zu dessen Tod 2010. Beide, Schlingensief und Castorf, hatten das Gedankenbesteck von Hegemann zur Hand, als sie sich in ihre Bayreuth-Abenteuer und die dazugehörigen Finsternisse stürzten, ohne Hegemann hätten sie sich das sicher auch getraut, aber auf jeden Fall weniger Spaß daran gehabt.

Carl Hegemann lebte zuletzt im Berliner Bötzowviertel

Aus dem Beschriebenen sollte klarwerden, dass er auch für die Lehre begabt war: Von 2006 bis 2014 war er Dramaturgieprofessor an der Hochschule für Musik und Theater Leipzig. Er unterrichtete an Hochschulen und Universitäten in Berlin, Frankfurt am Main, Hamburg, München, Wien und Zürich.

Hegemann war mit der Grafikerin und Bühnenmalerin Brigitte Isemeyer verheiratet, die gemeinsame Tochter ist die Autorin Helene Hegemann. Carl Hegemann lebte zuletzt im Berliner Bötzowviertel, begeisterte sich für die bevorstehende Arbeit mit den Totaltheaterduo Vegard Vinge und Ida Müller, denen er nur allzu gern die Volksbühne als Spielzeug überantwortet hätte, was sicher auch auf grandiose und hoffnungsvolle Weise schiefgegangen wäre. Mit niemandem konnte man so fröhlich Gedankentango tanzen wie mit ihm. Und wenn man sich dabei auf die Füße latschte oder übereinander stolperte und sich hinlegte, gehörte das unbedingt zum Spaß dazu – und förderte selbstverständlich den gegenseitigen Erkenntnisgewinn.

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