Der Jugoslawienkrieg ist längst vorbei. In den Köpfen und Körpern hört der Schmerz nicht auf


Eines Tages kommt ein indischer Wanderzirkus in die Stadt. Ein ziemlich originalgetreuer Fakir mit Turban auf dem Kopf sucht einen Freiwilligen. Mit diesem will er sich vor dem abendlichen Auftritt schon einmal in Stimmung bringen. Der Ich-Erzähler aus Faruk Šehićs Roman «Von der Una» stellt sich zur Verfügung und wird hypnotisiert.
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Mit dieser Szene beginnt eine Zeitreise, wie sie die Literatur noch nicht kennt. «Ich bin dreizehn und will gerade angeln gehen. Ich habe Gummistiefel an den Füssen, die Angelrute in der Hand und die Anglertasche über der Schulter. Das Schilfgras riecht nach Fischschleim», sagt der Erzähler schon aus der Hypnose heraus, und man folgt ihm wie benommen durch seine Geschichte. Durch eine Geschichte, in der einer wieder heil sein will, «und sei es nur in der Erinnerung».
Das Unheil, das ist der Jugoslawienkrieg, der 1993 Bosanska Krupa, die bosnische Heimatstadt Faruk Šehićs, erfasst hat. Er selbst ist damals einundzwanzig, kommt zum Militär, kämpft gegen die serbischen Truppen, wird schwer verwundet. Was nicht wieder ganz wird, ist seine Biografie. Es gibt ein Davor und ein Danach.
Vertreibung aus dem Paradies«Von der Una» ist kein dickes, aber ein gewaltiges Buch. Es erzählt von der Natur des Menschen, der jederzeit zu Krieg und Mord bereit ist. Der eine Trennlinie zieht zwischen sich und der friedlichen Natur, die ihn umgibt. Krieg ist Selbstvertreibung aus dem Paradies, und für diese grosse Katastrophengeschichte, die nicht aufhört, sich zu wiederholen, hat Faruk Šehić eine ganz eigene Sprache. In dichten Bildern taucht er ein in die Flusslandschaft seiner Kindheit, in Zeiten, wo es nichts anderes zu geben schien als die Schwärme der Döbel im Wasser, die Kreuzschnäbel im Gebüsch und die Senken in den Wiesen, aus denen nach dem Sommerregen kleine Seen wurden.
Das Haus der Grossmutter, das nah an der Una steht, ist ein Zentrum der Phantasien. Wenn die Physik der Einbildung wirkt, dann kann es sich von seinem Liegeplatz losmachen und als Schiff den Fluss hinuntergleiten. Es kann zu einem Raumschiff werden, wie es der junge bosnische Leser aus seinen Science-Fiction-Büchern kennt.
«Ich bin ein Bodenastronaut. Ich reise mit Gedankengeschwindigkeit», sagt der Erzähler über sein zur Beobachtung begabtes Kinder-Ich. Man weiss, dass es eines Tages mit der Euphorie des reinen Schauens und der Idylle vorbei sein wird, denn es gibt eine zweite Natur. Dann heisst es: «Es regnete Mörsergranaten wie Blumensträusse.»
Was Faruk Šehićs nach vierzehn Jahren ins Deutsche übersetzten Roman so irritierend präzise macht: Er blendet die Paradiese des Friedens direkt in die Grausamkeiten des Krieges hinein. Das eine ist nicht das Gegenteil des anderen, sondern nur dessen Verwandlung. «Die Kuh muhte ihre tiefe Elegie. Morgen schon würden wir Häuser abfackeln und Menschen töten, die genauso hiessen wie wir.»
In der Schule des HassesAuch das Ich des Romans verwandelt sich. Es lernt zu hassen, weil der Hass die einzige Möglichkeit ist, zu überleben. Unter den Umständen der Kämpfe zwischen Serben und Bosniern wird es zum Mörder. Auch nicht unterdrücken lässt sich die Erinnerung an den Flughafenhangar, wo die bei Ćojluk gefangengenommenen Serben von den Bosniern gefoltert wurden. Halb metaphorisch heisst es im Buch: «Der Hangar war ein verbotener Raum, und ich machte einen Riesenbogen um ihn.»
«Von der Una» nennt der heute 55-jährige Faruk Šehić seinen Roman, wissend, dass es nicht gelingen kann, von nichts anderem zu reden als von einem Flüsschen, das ruhig durch die Landschaft fliesst: «Das Schlachtfeld wollte nicht verschwinden, trotz der Fantasie, die mich in unberührte Welten aus einer vergessenen Vergangenheit zog.»
Faruk Šehić: Von der Una. Roman. Aus dem Bosnischen von Elvira Veselinović. Verlag Voland und Quist, Berlin 2025. 238 S., Fr. 34.90.
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