Alberto Toscano | »Demokratischer« Imperialismus
Der panafrikanische Intellektuelle George Padmore, der mit der Kommunistischen Internationalen wegen deren Unfähigkeit brach, über die Verbindung zwischen »demokratischem« Imperialismus und Faschismus nachzudenken, beschreibt den siedlerkolonialen Rassismus in How Britain Rules Africa (1936) als »Nährboden jener faschistischen Mentalität, die heute in Europa entfesselt worden ist«. Später wird er in Südafrika »den faschistischen Staat par excellence« erkennen, der auf der »Einheit von ›Rasse‹ im Widerspruch zu Klasse« beruht. Padmores Anatomie der von ihm als »Kolonialfaschismus« bezeichneten Verhältnisse nimmt damit die berühmte Beschreibung des Faschismus als Bumerangeffekt imperialistischer europäischer Gewalt in Césaires Buch Über den Kolonialismus vorweg. Ganz ähnlich findet sich die These auch beim tunesisch-jüdischen Schriftsteller Albert Memmi und dem guyanischen Historiker und Revolutionär Walter Rodney, der mit Bezug auf die Unterstützung der Siedler für das Vichy-Regime in Frankreich und die Bestrebungen der französischstämmigen Algerier, die liberale Herrschaft im Mutterland zu destabilisieren, vom »faschistischen Potenzial des Kolonialismus« spricht. Die antikoloniale Überzeugung, wonach der Standpunkt der Opfer rassifizierender Gewalt den Ausnahmecharakter des innereuropäischen Faschismus widerlegt, wurde auch von afroamerikanischen Intellektuellen aufgegriffen. Auf dem antifaschistischen Internationalen Schriftstellerkongress 1937 in Paris erklärte der Dichter Langston Hughes: »Den Schwarzen in Amerika muss man nicht erklären, was Faschismus in der Praxis bedeutet. Wir wissen es. Seine Theorien nordischer Vorherrschaft und ökonomischer Unterdrückung sind für uns seit Langem Realität.«
Diese Lehre lässt sich auch aus der historischen Abrechnung mit dem racial capitalism der USA ziehen, die sich in W.E.B Du Bois’ 1935 veröffentlichtem Buch Black Reconstruction findet. Wie Amiri Baraka nahelegt, zog das gewaltsame Ende der Reconstruction (Wiederaufbau und Wiedereingliederung des Südens nach 1865, Anm.d.Übs.) einen »racial fascism« nach sich, der in seinem Einsatz rassistischen Terrors, der Kooptation armer Weißer und der begeisterten Unterstützung des weißen Suprematismus durch große Teile der finanz- und industriekapitalistischen Klasse Hitlers Bewegung lange vorwegnahm. Wenn man die Gegenwart durch diese Brille betrachtet, kann man erkennen, wie und warum »das den politischen Raum Amerikas füllende historische Mobiliar institutionell so angeordnet wurde, dass immer eine Entwicklungsperspektive hin zu autoritäreren Formen wie dem Faschismus offen blieb«.
Aus dieser Perspektive konnte der amerikanische racial fascism unbemerkt bleiben, weil er auf ähnliche Weise auf der anderen Seite der Hautfarbengrenze operierte, wie der Kolonialfaschismus in räumlicher und epistemischer Entfernung von der imperialen Metropole stattfand. Oder wie es Jean Genet am 1. Mai 1970 in New Haven bei einer Kundgebung zur Befreiung des Vorsitzenden der Black Panther Party Bobby Seale ausdrückte: »Eine andere Sache, die mir Sorgen bereitet, ist der Faschismus. Wir hören die Black Panther Party oft von Faschismus sprechen, und Weiße haben Schwierigkeiten, den Begriff zu akzeptieren. Das liegt daran, dass Weiße viel Vorstellungskraft mobilisieren müssen, um zu begreifen, dass Schwarze unter einem unterdrückerischen, faschistischen Regime leben.«
Der Begriff des »Faschismus« rückt vor allem aufgrund der Black Panther Party oder zumindest in ihrem Umfeld in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren wieder ins Zentrum linker Debatten und Aktivitäten. Die Konferenz United Front Against Fascism 1969 in Oakland brachte ein breites Spektrum alter und neuer Linker, asiatisch-amerikanischer, Chicano- und puerto-ricanischer Aktivist*innen zusammen, die alle ihre eigene Sichtweise auf den amerikanischen Faschismus entwickelt hatten (und zum Beispiel die japanischen Internierungserfahrungen während des Zweiten Weltkriegs betonten). Ein bemerkenswertes Zeugnis der Spezifika und Kontinuitäten antifaschistischer Traditionen in den USA ist der Umstand, dass die ihrem Wesen nach reformistische Forderung nach einer community-nahen, dezentralisierten Polizeiarbeit zu den Hauptinhalten der Konferenz gehörte – es ging darum, rassistische weiße Polizeibeamte aus schwarzen Vierteln abzuziehen und eine lokale Kontrolle der Strafverfolgung durchzusetzen. Wenn wir Theorien über das Wesen des Spätfaschismus in den USA nachgehen wollen, müssen wir uns allerdings weniger mit den führenden Mitgliedern der Black Panther Party als mit den ihnen nahestehenden politischen Gefangenen beschäftigen. Während die Diskussion über die »neuen Faschismen« die radikalen Debatten in Europa polarisierten, skizzierte der Briefwechsel zwischen Angela Y. Davis und George Jackson eine Möglichkeit zur Theoretisierung des Faschismus aus unmittelbaren Erfahrungen an der gewaltförmigen Schnittstelle von racial capitalism und karzeralem Staat.
In den USA wurde ab den 1870er Jahren ein »racial fascism« etabliert, der in seinem Einsatz rassistischen Terrors, der Kooptation armer Weißer und der Unterstützung weißer Überlegenheit durch die finanz- und industriekapitalistische Klasse Hitlers Bewegung lange vorwegnahm.
In einem seiner Gefängnisbriefe über den Faschismus, die in Blood in My Eye veröffentlicht wurden, schreibt George Jackson: »Wenn ich von jemandem aus der alten Garde interviewt werde und auf den Beton und den Stahl deute, auf das winzige elektronische Abhörgerät, das im Lüftungsschacht versteckt ist, auf die Phalanx der uns beäugenden Wachen und seinen kaum funktionierenden Plastik-Recorder, für den er eine Woche arbeiten musste, und wenn ich behaupte, dass all das Ausdruck von Faschismus ist, wird er unweigerlich zu widersprechen versuchen und den Faschismus als ökonomisches geopolitisches Projekt mit Einparteienherrschaft definieren, bei dem keine oppositionelle politische Arbeit erlaubt ist.«
Mit Jackson könnten wir fragen: Wie verändert sich die theoretische Auseinandersetzung mit Faschismus und (Neo-)Autoritarismus, wenn sie einem Gestaltwandel unterzogen wird und den rassifizierenden kapitalistischen Staat und seinen Gefängnisapparat zum Dreh- und Angelpunkt nimmt, also eine Art »Schrägaufnahme von unten« macht, um ein »Panorama der erlittenen Gewalt« zu enthüllen? In einem nicht abgeschickten Brief an Jean Genet, der auf den Tag vor der Ermordung Jacksons durch einen Scharfschützen der Gefängniswache von San Quentin datiert ist, schreibt Jacques Derrida: »Im Gefängnis – diesem einen oder anderen –, wo das System der (westlich-weiß-kapitalistisch-rassistischen) Gesellschaft glaubt, sein Äußeres in Ketten gelegt zu haben, ermöglicht es gerade durch dieses Vorgehen eine Analyse seiner Funktionsweise, eine praktische Analyse, die zugleich die unerbittlichste, verzweifeltste und affirmativste ist.«
In der Faschismusdebatte ist es zu einem Gemeinplatz geworden, die 1970er Jahre als eine Art intellektuellen Tiefpunkt zu kritisieren, an dem der Faschismusbegriff mit fatalen Konsequenzen von einer Kategorie historischer Analyse und Klassifizierung zu einem politischen Pauschalschimpfwort degradiert wurde. Im Folgenden möchte ich hingegen die These aufstellen, dass sich in der vermeintlichen Inflationierung und Übersteigerung des Faschismusbegriffs im Kontext der Befreiungskämpfe und des Radikalismus der 1970er Jahre wertvolle Einsichten verbergen. Vor allem aber möchte ich unterstreichen, wie die Betrachtung des Faschismus aus der Tradition schwarzer radikaler Intellektueller den Debatten der Gegenwart eine produktive Richtung geben kann. Was geschieht mit unseren Konzepten von Faschismus und Autoritarismus, wenn wir uns nicht an den mutmaßlichen Analogien der europäischen Zwischenkriegszeit orientieren, sondern an der Materialität des gefängnisindustriellen Komplexes, an »Beton und Stahl«, den Überwachungstechnologien und dem Repressionspersonal? Indem wir die analytische Verknüpfung von Faschismus und racial capitalism untersuchen, wie sie in den Befreiungskämpfen der 1970er Jahre entwickelt wurde, können wir sie mit der Faschismusanalyse schwarzer Theoretiker*innen der Zwischenkriegszeit rückkoppeln und eine Brücke schlagen zur Wiederauferstehung des Faschismus im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert.
In ihrer Korrespondenz, die von unterschiedlichen Auffassungen, aber auch von tiefer Verbundenheit zeugen, identifizieren sowohl Angela Y. Davis als auch George Jackson den US-Staatsapparat als den Ort, an dem bestimmte Merkmale der (europäischen) historischen Faschismen wiederkehren oder sogar perfektioniert werden. Ein Großteil ihrer theoretischen Auseinandersetzung kreist um das Wesen von Monopolkapitalismus, Imperialismus und kapitalistischer Krise sowie, im Fall Jacksons, um den Versuch einer Neubewertung der herkömmlichen Geschichtsschreibung des Faschismus. Für die Gegenwart besonders relevant ist, wie die Schnittstelle von Faschismus und Demokratie mithilfe des Prismas race – rassifizierende Herrschaft und racial capitalism – ausgeleuchtet wird und wie uns das dabei helfen kann, die normative Überzeugung hinsichtlich des absoluten Widerspruchs von faschistischer Despotie und liberaler Demokratie zu hinterfragen und zu widerlegen. Jackson und Davis sind sich der Unterschiede zwischen den von ihnen erfahrenen Formen von Herrschaft und historischem Faschismus zwar absolut bewusst, aber machen beide die erkenntnistheoretisch privilegierte Perspektive aus dem Innern eines Gefängnis- und Justizwesens geltend, das mit Recht als System rassistischen Terrors bezeichnet werden kann. Auf unterschiedliche Weise greifen sie die in Césaires Über den Kolonialismus formulierte Ausgangsthese des antirassistischen und radikalen schwarzen Antifaschismus auf und rekodieren sie neu. In den Worten des Dichters und Politikers aus Martinique: »Und dann, eines schönen Tages, wird die Bourgeoisie durch einen schrecklichen Boomerang-Effekt geweckt: Die Gestapo treibt ihr Unwesen, die Gefängnisse füllen sich, und um die Folterbänke herum erfinden, perfektionieren, diskutieren die Folterknechte.«
Doch die neue Form des amerikanischen Faschismus, die Jackson und Davis untersuchen, ist kein unerwünschter Widerhall aus der verdrängten Sphäre kolonialer Gewalt; sie entspringt dem Schoß der liberalen Demokratie selbst. Die Gefängnisse sind bereits voll. Und die Verallgemeinerung des rassifizierenden karzeralen Terrors in der Gesellschaft – was eines der wichtigsten Merkmale des neuen Faschismus ist – stellt sich weniger als Boomerang-Effekt dar denn als undramatischer und schleichender Prozess, als eine Durchdringung des gesellschaftlichen Raums des existierenden Liberalismus durch Muster und Instrumente, die zwischen Beton und Stahl erfunden, analysiert und perfektioniert worden sind. Mullen und Vials stellen zu Recht fest:
»Für People of Colour konnte die Rassifizierungserfahrung in liberalen Demokratien in verschiedenen historischen Momenten dem Faschismus gleichkommen. Das heißt, obwohl ein faschistischer Staat und eine weiß-suprematistische Demokratie sehr unterschiedliche Mechanismen der Herrschaft kennen, kann die Erfahrung rassifizierter Entrechtung in liberalen Demokratien den Unterschied zwischen dieser und dem Faschismus auf der Ebene gelebter Erfahrung verschwimmen lassen. Für diejenigen, denen grundlegende Rechte liberaler Demokratie durch Rassifizierung vorenthalten werden, verweist das Wort ›Faschismus‹ nicht bloß auf eine ferne und fremde Gesellschaftsordnung.«
Alberto Toscano, 1977 geboren, ist Philosoph und lebt in Vancouver. Die deutsche Ausgabe von »Spätfaschismus« erschien 2025 im Unrast Verlag. (Übersetzung der Auszüge im »nd«: Raul Zelik.)
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