Nach der Wahl: Wie Schwarz und Rot in der Wirtschaftspolitik zusammenfinden könnten
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Die Migration und die bröckelnde Verteidigungsfähigkeit nach dem Liebesentzug durch die USA haben im Wahlkampf alle anderen Themen in den Hintergrund gerückt. Selbst die Wirtschaftspolitik – obgleich Deutschland in der Rezession steckt, Betriebe schließen und die Arbeitslosigkeit wächst. Der designierte Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) will, wie er selbst sagt, die Volkswirtschaft wieder flott machen. Das ist schon deshalb unerlässlich, weil ohne Wachstum, ohne sprudelnde Staats- und Sozialeinnahmen sein Versprechen nicht aufgeht, die Steuern zu senken und trotzdem die Schuldenbremse einzuhalten.
Die große Frage ist, wie sich diese Pläne mit den Sozialdemokraten verwirklichen lassen, falls sie als Juniorpartner in die Koalition eintreten. Wie üblich, wenn bürgerliche und linke Parteien miteinander regieren wollen, werden beide Seiten manche Kröte schlucken müssen. Aber das sei nötig, um Deutschland voranzubringen, sagt Monika Schnitzer, die Vorsitzende des Sachverständigenrats Wirtschaft. Sie ruft die künftige Regierung zu drastischen Reformschritten auf. So müsse der neue Bundeskanzler dringend „eine stabilitätsorientierte Reform der Schuldenbremse bei gleichzeitig verbindlicher Verstetigung zukunftsorientierter Ausgaben, zuvorderst Infrastruktur, Verteidigung und Bildung“ angehen, sagte Schnitzer der F.A.Z.
Sie spricht sich für ein neues Sondervermögens für Verteidigung aus. Dafür fehlt zwar Union und SPD eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag, selbst mit den Grünen. Aber Schnitzer hält politische Tauschgeschäfte für möglich: „Man könnte vielleicht versuchen, die Linke zum Zustimmen zu motivieren, wenn man ein Sondervermögen für Infrastruktur aufsetzt und dadurch Spielraum im Haushalt schafft.“ Sonst könne man sich für die Verteidigung nur auf eine Notfallsituation berufen und die Ausnahmeregel ziehen. „Dagegen könnte aber die AfD in Karlsruhe klagen“, gibt die Wirtschaftsweise zu bedenken.
Wie wollen Merz, der Wahlsieger von der nicht allzu starken Union, und Lars Klingbeil, der neue starke Mann der schwachen SPD, in der Finanzpolitik zusammenfinden? Kräftige Entlastungen versprach die Union, um Leistungsanreize zu setzen und Investitionen zu beflügeln. Den Tarif in der Einkommensteuer wollte sie durchgängig senken, den Spitzensteuersatz später einsetzen lassen und den verblieben Solidaritätszuschlag abschaffen. Die Sozialdemokraten wollten die unteren 95 Prozent in der Einkommensteuer entlasten und sich das Geld bei den oberen fünf Prozent zurückholen. Und natürlich am Soli festhalten.
Aus dem vermeintlichen Konflikt könnte Konsens werden, indem man den Steuerzuschlag in den Tarif integriert und die Einkommensgrenzen für den Spitzensteuersatz und die Reichensteuer verschiebt. Aus 42 Prozent würden 44 oder 45 Prozent, aus 45 würden 47 oder 48 Prozent. Die Finanzpolitiker hatten mit Billigung von Merz so ein Konzept schon einmal entwickelt. Als sich Protest regte, hatte die Parteiführung diese Gedankenspiele schnell wieder kassiert. Nun könnte das Modell wiederaufleben. Die SPD könnte dann einen höheren Spitzen- und Reichensteuersatz als Belege für erfolgreiches Verhandeln vorweisen.
Auch in der Besteuerung von Unternehmen lagen die beiden Parteien bisher auseinander: Die einen wollten die Körperschaftsteuer schrittweise senken, um mit der Gewerbesteuer auf eine Gesamtbelastung von durchschnittlich etwa 25 Prozent zu kommen. Personengesellschaften sollten ebenfalls davon profitieren können. Die SPD lehnte diese Steuersenkungen als wenig zielgenau ab. Die eingesparten Steuerzahlungen könnten die Unternehmen für Aktienrückkäufe oder Investitionen im Ausland nutzen. Stattdessen warb man wie die Grünen für eine Prämie von zehn Prozent für Investitionen im eigenen Land. Davon würden auch Unternehmen profitieren, die Verluste machen. Hier ist ein Kompromiss schwierig, auch wenn eine Investitionsprämie in vielem einer Sonderabschreibung im Steuerrecht ähnelt. Aber das Signal, das mit einer geringeren Ertragsbelastung in internationalen Vergleichen verbunden ist, fiele damit weg.
Steuerpolitische Beschlüsse schlagen schnell auf die Bundes- und Länderhaushalte durch. So ist die Frage, ob man auf die Senkung der Mehrwertsteuer für das Essen in Gasthäusern (Union) oder auf Lebensmittel (SPD) verzichtet oder das mit einer Erhöhung des normalen Satzes finanziert. Letzteres ist aus Sicht des Fiskus immer attraktiv. Und mehr Geld wird die nächste Regierung bestimmt benötigen.
Schon am Tag nach der Bundestagswahl gab es eine Debatte, ob der alte Bundestag noch einmal zusammenkommen sollte, um eine Reform der Schuldenbremse auf den Weg zu bringen. Noch haben dort die Parteien der Mitte eine verfassungsändernde Mehrheit. Die Grünen, die schon lange auf eine Lockerung dringen, hatten dies vorgeschlagen. Der Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion, Thorsten Frei, lehnte dies zwar umgehend ab, aber Merz zeigte sich grundsätzlich bereit, Verteidigungsausgaben an der Schuldenregel vorbei mit Hilfe von Extra-Krediten zu finanzieren. „Wir haben jetzt noch vier Wochen Zeit, darüber nachzudenken“, sagte er auf die Frage, ob der alte Bundestag noch eine Grundgesetzänderung zur Verankerung eines neuen Bundeswehr-Sondervermögens beschließen könnte.
Ein zentraler Prüfstein für die wirtschaftspolitische Ausrichtung der möglichen Koalitionäre ist auch der Umgang mit der gesetzlichen Rente: Setzte sich die SPD hier mit ihrer Forderung nach Stilllegung des Demographie- oder Nachhaltigkeitsfaktors durch, dann würden damit faktisch Spielräume für private und öffentliche Investitionen um bis zu 500 Milliarden Euro für die kommenden 15 Jahre gekürzt. Denn so ein Betrag würde dann in zusätzliche Rentenerhöhungen gelenkt. Er würde über zusätzliche Sozialbeiträge und Steuern von Beschäftigten und Unternehmen erhoben, stünde also nicht mehr für andere Zwecke zur Verfügung.
Die Union hat sich unter Schmerzen ihrer Sozialpolitiker gegen eine solche Positionierung entschieden. Sie versprach, für so viel Wirtschaftswachstum zu sorgen, dass die Rente dadurch stärker steigt. Der Sachverständigenrat mahnt indes zu ganz anderen Schritten, um die Rente zu stabilisieren: Nötig sei eine „Rentenreform, mit Anhebung des Renteneintrittsalters“, so Schnitzer am Montag. Dass Union und SPD sich darauf einigen, scheint ausgeschlossen. Es wird darum gerungen werden, ob oder wie stark sie in der Gegenrichtung Gas geben.
Bei der Rente geht es darum, ob oder wie stark der Anstieg von Sozialbeiträgen und Steuern beschleunigt werden soll. Um Betriebe und Bürger zu entlasten und Wachstum anzufachen, müssten diese aber sinken oder wenigstens stabil bleiben. Tatsächlich werden in Deutschland Arbeitseinkommen besonders stark belastet. Ohne begrenzende Eingriffe steigen die Sozialbeiträge bis zum Ende der neuen Legislaturperiode auf 45 Prozent des Bruttolohns; die frühere Obergrenze von 40 Prozent ist längst gerissen. Kranken- und Pflegekassen steuern auf weitere Milliardendefizite zu, obwohl ihre Beiträge gerade erst wieder gestiegen sind.
Eigentlich wollen Union und SPD auf ähnliche Weise Abhilfe schaffen: indem sogenannte versicherungsfremde Leistungen künftig aus dem Bundeshaushalt und nicht aus den Sozialtöpfen zu bezahlen wären. Das betrifft zum Beispiel die Rentenbeiträge für pflegende Angehörige oder die Krankenkassenabgaben für Bürgergeldempfänger. Beides zusammen würde die Kassen um 14 Milliarden Euro im Jahr entlasten, das ist fast so viel wie der bisherige Bundeszuschuss. Die Frage ist nur, woher das viele Steuergeld stammen soll. Dass die Ausgaben durch Leistungskürzungen sinken, ist unwahrscheinlich, da 40 Prozent der Wahlberechtigten älter als 60 Jahre sind. Die Union kann sich eine private Pflegezusatzversicherung vorstellen, die SPD hingegen eine Zurückdrängung privater Angebote durch Einführung einer Bürgerversicherung. Hier wird man also nicht zusammenkommen.
Schwierig wird es wohl auch mit einem Umbau des Bürgergelds, mindestens gemessen am Ziel der Union, durch dessen „Abschaffung“ sechs Milliarden Euro jährlich einzusparen. Zwar war Olaf Scholz (SPD) im Wahlkampf als Verfechter harter Sanktionen gegen arbeitsunwillige Leistungsbezieher aufgetreten. Das ist aber weniger die Haltung seiner Partei, die mit der Bürgergeldreform von 2023 ihr altes „Hartz-IV-Trauma“ überwinden wollte. Zwar ist sie bei Sanktionen flexibler, als es in der Ampel der linke Grünenflügel war. Wenn es aber darum geht, mehr arbeitsfähige Leistungsbezieher in selbsttragende Beschäftigung zu bringen, hält auch sie wenig davon, Geldleistungen knapp zu halten, um Arbeitsanreize zu erhöhen. Sie setzt vor allem auf mehr Förderung und damit auf mehr Fördergeld aus dem Sozialetat.
Und dann ist da noch der gesetzlichen Mindestlohn. Die SPD hat sich im Wahlkampf für eine rasche Erhöhung auf 15 Euro je Stunde starkgemacht. Die Union pocht auf die Unabhängigkeit der Mindestlohnkommission; die ihren nächsten Beschluss im Juni fasst. Soll die Koalition bis Ostern stehen, können die Matadore also nicht erst deren Ergebnis abwarten. Andererseits ist absehbar, das sie nach den vielen inflationsbedingt starken Tariferhöhungen nun auch beim Mindestlohn einen kräftigen Schritt über die heutigen 12,82 Euro hinaus beschließen wird.
Einvernehmen besteht zwischen Union und SPD darin, dass die Energiekosten sinken müssen, vor allem für Unternehmen, die viel verbrauchen und im internationalen Wettbewerb stehen. Die alte Regierung hat die Stromsteuer bereits vorübergehend auf das EU-Mindestmaß verringert, von 1,5 auf 0,05 Cent je Kilowattstunde. Diese Entlastung könnte unter Schwarz-Rot entfristet werden.
An der Klimaneutralität bis 2045 und an der Energiewende mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien wollen beide Fraktionen festhalten. Beide sehen zugleich ein, dass es mit günstig erzeugtem Ökostrom allein nicht getan ist. Hinzu kommen riesige Systemkosten, etwa für steuerbare Gaskraftwerke als Sicherheitskapazitäten bei Dunkelflauten oder für den Netzausbau in einem dezentralen Geflecht aus Erzeugern und Verbrauchern.
Um die Netzentgelte und damit die Stromkosten in Schach zu halten, wollen beide möglichen Regierungskräfte den Netzausbau subventionieren. Die Union will das Geld aus den CO2-Einnahmen im KTF nehmen. Zudem will sie die Netzkosten dadurch senken, dass künftig statt Erdkabel wieder Freileitungen verlegt werden dürfen. Die SPD strebt Übertragungsnetzentgelte von drei statt derzeit 6,65 Cent je Kilowattstunde an. Dieses Ziel entspricht in etwa der Höhe von 2023, als es einen Zuschuss aus dem Wirtschaftsstabilisierungsfonds gab.
Die Finanzhilfen für Strom-, Wärme-, Ladesäulen- und Wasserstoffnetze will die SPD aus einem 100 Milliarden Euro schweren „Deutschlandfonds“ bestreiten. Dieser soll auch den Wohnungsbau fördern. Der Fonds soll sich aus staatlichen und privaten Mitteln speisen, etwa von Versicherungen und Pensionskassen. Der öffentliche Teil werde „im bestehenden Rahmen der Schuldenregel unseres Grundgesetzes“ funktionieren, verspricht das Wahlprogramm.
Zum umstrittenen Gebäudeenergie- oder Heizungsgesetz, das die SPD mit Grünen und FDP beschlossen hat, hält sie sich bedeckt. Die Union will die Regelung abschaffen. Sie setzt im übrigen weiterhin auf die „Option Kernenergie“, die SPD schließt die Weiter- oder Wiedernutzung der Atomkraft hingegen aus.
Frankfurter Allgemeine Zeitung