BVB versöhnt sich mit der Gruselsaison - und überwindet ein altes Trauma

Borussia Dortmund gewinnt gegen Holstein Kiel und erreicht damit die Champions League. Es ist das versöhnliche Ende einer Katastrophen-Saison. Und viele BVB-Fans überwinden ein altes Trauma.
Traumwetter, Heimspiel, letzter Spieltag in der Bundesliga – das bedeutet Feiertag in Dortmund. Die ganze Stadt streift sich wieder das markante Gelb über, schon am Vormittag wird der Markt auf dem Hansaplatz in den Vereinsfarben gehüllt.
Dort herrscht ein leises Geflüster. Wer genau hinschaut und wer vor allem genau hinhört, der wird immer wieder an eine gewisse Situation von vor zwei Jahren erinnert. Doch wer über jenen Tag spricht, senkt reflexartig die Stimme, die Köpfe eng aneinander, die Hände vor dem Mund. Niemand will böse Geister wecken oder böse Erinnerungen bei Unbeteiligten hervorrufen. Das Mainz-Spiel schwebt wie eine eigene Sphäre über der Stadt.
An diesem ominösen 27. Mai vor zwei Jahren verspielte der BVB hochdramatisch beim 2:2 gegen FSV am letzten Spieltag die Meisterschaft im eigenen Stadion. Sie hatten es selbst in der Hand – und versagten.
Das Drama hängt dem gesamten Verein und der Stadt noch heute nach. So herrscht auch vor der Partie gegen Holstein Kiel eine gewisse Aufregung. Die Vorzeichen sind frappierend ähnlich. Fantastisches Wetter, fantastische Stimmung und den Erfolg in der eigenen Hand.
In einer gruseligen Saison, in der der BVB zwischenzeitlich auf Platz elf abgerutscht war, können die Dortmunder am letzten Spieltag noch aus eigener Kraft die Champions League erreichen. Eine historische Aufholjagd, bei der der BVB zehn Punkte auf Platz vier aufholte.
Von der Königsklasse hatte man sich gedanklich beim 3:1-Sieg gegen den FC Barcelona im Viertelfinal-Rückspiel verabschiedet, nun ruft Europa wieder. Platz 4 ist keine Meisterschaft, aber unter den Umständen ein großer und wichtiger Erfolg für den Verein.
In Holstein Kiel kommt nun ein Gast, für den es nach dem feststehenden Abstieg lediglich noch um einen ehrhaften Abschied aus der Bundesliga geht. Auch Mainz hatte einst nichts mehr zu gewinnen oder zu verlieren.

Doch diesmal läuft alles nach Plan. Frühe Führung durch Serhou Guirassy (3.), eine frühe Rote Karte für Kiels Carl Johansson (9., Notbremse), was soll noch passieren?
Dann beginnt allerdings das Grübeln in den Köpfen der Spieler. Flüchtigkeitsfehler, individuelle Patzer, Fahrlässigkeit, Nervosität. Als Shuto Machino aus wenigen Metern nur wegen einer Glanztat von Gregor Kobel den Ausgleich verpasst, steigt die Verunsicherung.
Zur Pause gibt es vereinzelt Pfiffe, die bösen Erinnerung drücken aufs Gemüt. Doch Trainer Niko Kovac, der den BVB wieder zurück in die Spur brachte und mit sieben Siegen und einem Remis aus den letzten acht Spielen die längst verloren gedachte Königsklasse wieder in Reichweite brachte, gibt der Mannschaft in der Kabine erneut Energie.
Er selbst spielt seine Rolle nach der Partie runter, in der Halbzeit habe man die Probleme sachlich besprochen, erklärt er auf der Pressekonferenz. "Und dann haben wir auf dem Platz eine ganz andere Positionierung gehabt, haben sehr viel breiter und höher gestanden, so mehr Druck über die Außen entwickelt und dann zwangsläufig die zwei Tore geschossen."
Spätestens nach dem 3:0 durch Felix Nmecha ist Partystimmung angesagt. Es wird von Europa gesungen, „der BVB ist wieder da“, heißt es.
Mit dem Schlusspfiff ertönt die ikonische Champions-League-Hymne über die Stadionlautsprecher. Es ist das versöhnliche Ende einer Gruselsaison, in der in Dortmund vieles bröckelte. Nun fliegt die Borussia mit Rückenwind in die USA zur Fifa Club-WM.
Während die Mannschaft vor der Süd feiert, steht Niko Kovac mit seinem Trainerteam im Hintergrund am Mittelkreis. Doch Sprechchöre locken den Kroaten und seine Kollegen, mit schüchternen Schritten traben sie in Richtung Gelbe Wand, dort bedankt sich Kovac gestenreich für die Unterstützung und zieht sich gleich wieder zurück, um die Feierlichkeiten zu beobachten.

Auf dem Weg in die Katakomben werden er und Bruder/Co-Trainer Robert von der Geschäftsführung euphorisch empfangen. Carsten Cramer verbeugt sich symbolisch, selbst Hans-Joachim Watzke herzt ihn überschwänglich.
Als Kovac später am Spielfeldrand das obligatorische TV-Interview bei Sky gibt, feiern ihn die Fans erneut mit Sprechchören.
Eine Genugtuung für den Trainer, der auch mit lauten Zweifeln empfangen wurde, als er im Februar die Aufgabe vom gescheiterten Nuri Sahin übernahm?
„Ich habe keine Genugtuung“, betont Kovac aber auf Nachfrage von FOCUS online und sagt weiter: „Ich freue mich einfach. Vielleicht sehen Sie es nicht, aber innerlich bin ich schon sehr froh und auch stolz geleistet zu haben.“
Kovac habe nur seinen Job gemacht, betont er. Doch wie wertvoll seine Arbeit in den letzten Wochen war, zeigt sich auch an den Aussagen seiner Spieler.
Kapitän Emre Can sagt bei Sky, Kovac habe dem Team wieder eine Mentalität verliehen. Er achte auf „die Kleinigkeiten“ und fordere „immer die maximale Konzentration“. Auch Julian Brandt spricht von einer neuen Disziplin im Team. Dabei habe Kovac geholfen: „Du hast bei ihm gemerkt, dass er schon sehr viel erlebt hat und auch schon durch Unzeiten gegangen ist.“
Und Torhüter Gregor Kobel, der bereits ein erstes Siegerbier in der Kabine genießen durfte, sagt: „Wir sind einfach ein geiles Team gewesen jetzt die letzten Wochen. Der Trainer hat einen super Job gemacht und ich finde, das Team hat es überragend angenommen.“
Der BVB präsentiert sich wieder als Mannschaft, als Einheit; und feiert das Happy End einer turbulenten Saison. Ist damit auch das Mainz-Trauma besiegt? Vermutlich noch nicht gänzlich. Doch viele Fans können durchatmen und es weiter verarbeiten. Das Geflüster wird leiser.
FOCUS