Die Älteren können es doch noch: Simon Yates triumphiert am Giro d'Italia


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Nach den jüngsten Erfolgen junger Radprofis, allen voran des 26-jährigen Tadej Pogacar, beweist der Giro-Sieger Simon Yates, dass auch die Routiniers noch glänzen können. Mit einem Kraftakt eroberte der 32-jährige Brite am Samstag in der vorletzten Etappe am Colle delle Finestre das rosa Trikot – und besiegte zugleich die Geister einer traumatischen Vergangenheit.
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Das Wetter inszenierte das Bergfinale in Sestriere dramatisch. Zunächst schien die Sonne, doch als Yates allein dem Ziel entgegenfuhr, fünf Minuten vor dem bisherigen Leader Isaac Del Toro, zogen dunkle Wolken über die schneebedeckten Gipfel. Erste Regentropfen fielen, während Yates aus dem drohenden Unwetter heraus den Giro für sich entschied. Für den 21-jährigen mexikanischen Jungstar Del Toro, der das Rennen bis dahin geprägt hatte, war es eine Götterdämmerung – und zugleich ein überraschendes Ende eines Dreikapitel-Wettkampfs.
Der Verlauf der Italien-Rundfahrt folgte fast einer klassischen Dramenstruktur, frei nach Aristoteles. Im Prolog in Albanien dominierte Primoz Roglic, der zwei Tage in Rosa fuhr, bevor Stürze ihn zum Aufgeben zwangen. Dann stieg Del Toro auf, ein junger Alleskönner vom Team UAE Emirates, der in allen Disziplinen des Radsports brilliert. «Er kann klettern, sprinten, beherrscht das Rad perfekt, wie man auf der Schotteretappe, dem neunten Teilstück, sah. Und im Zeitfahren findet er die ideale Balance zwischen Risiko und Tempo», sagte sein sportlicher Leiter Matxin Fernandez. Doch der jugendliche Held fand im elf Jahre älteren Yates seinen Bezwinger.
Kampf gegen die Dämonen von 2018Auf der letzten Bergetappe nutzte Yates das Zögern von Del Toro und dem Gesamtzweiten Richard Carapaz. Ihr taktisches Abwarten nach Yates’ Angriff könnte man als retardierendes Moment bezeichnen – ganz im Sinne der aristotelischen Dramentheorie.
Yates kämpfte nicht nur gegen seine Konkurrenten, sondern auch gegen die Schatten der Vergangenheit. «Dieser Berg hat mich jahrelang verfolgt», sagte er und erinnerte an seinen Einbruch Colle delle Finestre beim Giro 2018, als er im Gesamtklassement vom ersten auf den 18. Platz zurückfiel, mit fast 40 Minuten Rückstand auf Chris Froome. «Als die Strecke des Giro bekannt wurde, wusste ich, dass ich hier etwas Besonderes schaffen will.» Im Ziel rang er mit Tränen – vor Glück, Erleichterung und der Erinnerung an alte Qualen.
Sein Team Visma – Lease a Bike unterstützte ihn mit einer perfekten Taktik. Wout Van Aert, Spezialist für Klassiker, liess sich aus der Ausreissergruppe zurückfallen und zog Yates auf flacherem Terrain als Lokomotive voran. Trotz seinem Erfolg blieb Yates bescheiden. Er betonte, dass auch in den Tagen zuvor Teamkollegen in Fluchtgruppen waren, er diesen Vorteil aber nicht nutzen konnte. Im Haifischbecken des Profi-Radsports bleibt der Brite ein nachdenklicher Charakter.
Yates ist ein Rundfahrer alter SchuleMit Yates triumphierte ein Fahrer, der die Tugenden der alten Radsportschule verkörpert. Über zweieinhalb Wochen hielt er sich im Peloton zurück, fuhr unauffällig, aber effizient. «Der Giro ist so angelegt, dass die Entscheidung in der dritten Woche fällt. In den ersten beiden Wochen darf man keine Fehler machen und keine Zeit verlieren», sagte er über seine Strategie. Vom jugendlichen Kraftpaket Del Toro liess er sich nicht beeindrucken – vielleicht erinnerte er sich an seine eigenen stürmischen Tage. Beim Giro 2018 war er, wie jetzt Del Toro, in jedem Sprint um Bonussekunden dabei, wirkte unbesiegbar – und brach dann ein.
Sein Gesamtsieg dieses Jahr resultierte nicht nur aus den Lehren von 2018. Yates wechselte zu Saisonbeginn vom finanziell schwächeren Team Jayco Alula zu Visma – Lease a Bike, einem Rennstall mit besseren Ressourcen. Dort fand er ein Umfeld, das Siege ermöglicht. Neben Tour-de-France-Sieger Jonas Vingegaard hat das Team in der Person von Yates nun ein zweites heisses Eisen für die grossen Rundfahrten.
Wie wichtig solche Alternativen sind, zeigte dieser Giro. Red Bull-Bora-Hansgrohe musste nach Roglics Ausfall die Gesamtwertung abschreiben. Auch UAE Emirates verlor mit Juan Ayuso und Adam Yates seine beiden Captains. Eine starke Spitze ist bei Grand Tours überlebenswichtig – doch nur finanzstarke Teams können sich das leisten.
Seit 2019 dominieren daher jene vier Rennställe mit den üppigsten Finanzmitteln die grossen Rundfahrten: Visma – Lease a Bike (acht Siege), UAE Emirates (vier), Ineos Grenadiers (drei) und Red Bull-Bora-Hansgrohe (zwei). Nur Movistar mit Richard Carapaz (Giro 2019) und Soudal Quick Step mit Remco Evenepoel (Vuelta 2022) durchbrachen diese Phalanx. Geld regiert weiterhin den Radsport – und bleibt sein grösstes Risiko.
nzz.ch