Ein Soziologe redet über Bergsteigen: «Die Vorstellung, ich müsste auf den Mount Everest steigen, lockt mich überhaupt nicht»


Philippe Matsas / Keystone
Herr Rosa, woher rührt Ihre persönliche Leidenschaft für die Berge?
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Ich liebe Berge in jeglicher Hinsicht, im Sommer genauso wie im Winter. Ich bin allerdings kein Kletterer, sondern ein Bergwanderer. Im Hochschwarzwald, wo ich aufgewachsen bin, hatten wir einen tollen Blick auf die Alpenkette. Mit den Eltern bin ich immer in die Schweiz gefahren, ins Berner Oberland. Und ich erinnere mich noch gut an einen Aufenthalt in Mürren: Eiger, Mönch, Jungfrau im Sommer, voll Schnee und Eis. Unbeschreiblich. Berge sind für mich seitdem ein Sehnsuchtsziel.
Eine Sehnsucht im Sinne von Eskapismus?
Ich verbinde damit eher ein Gefühl von Geborgenheit. Wissen Sie, was eigenartig ist?
Erzählen Sie.
Neben Bergen sind auch Sterne eine grosse Leidenschaft von mir. Ich war noch jung, im Abitur-Alter, als ich gefragt wurde, ob ich Astronaut oder Bergsteiger werden wolle.
Wären das Optionen gewesen?
Nein. Es ist eine andere Leidenschaft, als unbedingt dorthin gehen zu wollen. Die Vorstellung, ich müsste auf den Mount Everest steigen, lockt mich überhaupt nicht.
Immer mehr Menschen zieht es in die Natur, sie versuchen am Mount Everest ihr Glück, obwohl sie vorher nicht einmal auf einen niedrigen Berg gewandert sind. Was steckt hinter dieser Entwicklung?
Unsere Art, mit den Bergen umzugehen, hat sich in den vergangenen Jahrhunderten stark verändert. Das ist kulturell gewachsen. Früher fuhren die Menschen in Kutschen über die Alpen, und sie zogen die Vorhänge zu, um die Landschaft, die sie schrecklich, weil lebensbedrohlich fanden, nicht sehen zu müssen. Heute begreifen wir das Gebirge als Gegensphäre zu unserem gesellschaftlichen Durcheinander. Und deshalb gehen wir dorthin.
Was ist denn durcheinandergeraten in unserem Leben?
Der Mensch begreift sich nicht mehr als Handelnder, sondern als Vollziehender. Selbst beim Kochen gibt einem der Thermomix genau vor, was wann genau zu tun ist. Das verstärkt die Sehnsucht, autonom zu handeln.
sge. Hartmut Rosa gehört zu den gefragtesten deutschsprachigen Soziologen. Der 59-Jährige lehrt an der Universität Jena und leitet das Max-Weber-Kolleg in Erfurt. Er beschäftigt sich mit Zeitsoziologie und Gesellschaftskritik.
Seine Theorie der sozialen Beschleunigung beschreibt, wie sich das Tempo des Lebens technologisch, sozial und kulturell ständig steigert. Weil Menschen weniger tiefgehende Beziehungen zu ihrer Umwelt, ihren Mitmenschen und sogar zu sich selbst entwickeln, kann diese Beschleunigung laut Rosa zu Entfremdung und zu einem Gefühl der Rastlosigkeit führen.
Als Gegenmittel zur entfremdenden Beschleunigung sieht Rosa die Resonanz. Mit Resonanz meint er einen tiefen, sinnhaften Austausch mit der Umgebung, mit Menschen oder auch mit Dingen und damit einen Zustand des gelungenen Weltverhältnisses.
Zumindest kann man dort aber beweisen, wie leistungsfähig man ist: «Ich schaffe das. Ich bezwinge mich, und ich bezwinge den Berg.» So lässt sich auch die Zahlen-Obsession, die parametrische Optimierung im Bergsport erklären. Man vergleicht sich ständig und versucht sich zu steigern. Zunächst steigt man auf einen Zweitausender, dann auf einen Dreitausender, und so geht es weiter.
Das allein dürfte die Menschen nicht reizen.
Das Gebirge ist auch eine Resonanzsphäre. Resonanz steht immer in einem Wechselverhältnis mit Unverfügbarkeit. Jeder, der am Berg unterwegs ist, hat mit sehr vielen Unverfügbarkeiten zu tun: mit dem Wetter, das umschlagen kann; mit Lawinen, Steinschlag und Felsstürzen, die uns das Gefühl geben, der Berg selbst lebe und agiere; und mit den unvorhersehbaren Reaktionen des eigenen Körpers, der an seine Grenzen kommt. Und wir wissen, dass man auch Glück haben muss, um den Gipfel oder das gewählte Ziel zu erreichen. Am Berg kann man sich als selbstwirksam erleben. Man begegnet einem anderen Ich, das nicht mit dem Vollziehen von Vorgaben, Programmen, Zeitplänen beschäftigt ist, sondern sich an einer harten, physisch widerständigen Materie abarbeitet. Damit muss man sich auseinandersetzen. Etwas berührt mich, macht etwas mit mir. Wir spüren uns buchstäblich, leben in einer lebendigen, atmenden Umwelt. Das meine ich mit Resonanz.
Aber nur weil ich mich als handelnde Person erlebe, muss mich das ja noch nicht berühren.
Richtig, dafür muss man auch bereit sein, sich berühren zu lassen, offen sein für die Eigenlogik des Gebirges. Selbstwirksamkeit hat unterschiedliche Dimensionen. Alles zu beherrschen, verhindert Resonanz. Ich unterscheide drei Resonanzerfahrungen: die soziale, also Liebe und Freundschaft; die materiale, wenn ich zum Beispiel einen Kuchen backe, der gut schmeckt; und die vertikale, also eine existenzielle Begegnung, die Menschen beispielsweise in der Religion machen. Bergsteigen ist allein schon physisch eine vertikale Resonanzerfahrung. Aber da ist auch diese Naturkraft, die mich ruft.
Vermutlich fühlt sich nicht jeder vom Berg gerufen.
Eine Garantie der Resonanzerfahrung habe ich in der Natur nie. Aus vielen Gesprächen weiss ich, dass Bergsteiger für sich in Anspruch nehmen, durch ihre Selbstwirksamkeit verwandelt zu werden. Resonanz lässt sich nicht erzwingen. Auch nicht bei den vielen Versprechungen der Tourismusindustrie. Oft wird einem da eine warenförmige Verfügbarkeit vorgegaukelt. Nehmen wir das Polarlicht. Ich fahre an den Polarkreis, aber ausgerechnet dann, wenn ich dort bin, sind keine Polarlichter zu sehen. Und noch viel wichtiger: Vielleicht sind sie sogar zu sehen, aber ich bin nicht in der richtigen Stimmung. Sie sagen mir nichts, ich wünschte, ich wäre im warmen Bett. Dass Erwartungen nicht erfüllt werden, ist ein Problem des Kapitalismus – er lebt davon. Die Folge ist dann, dass man bereits in den Ferien schon die nächsten Ferien plant, weil die Erwartungen und Hoffnungen nicht erfüllt wurden. Wenn ich hundertprozentig sicherstellen will, dass es nicht zu Resonanz kommt, dann mache ich am besten eine Kreuzfahrt. Auf dieser kann ich garantiert essen, was ich von zu Hause kenne, und der Löwe steht genau dann vor dem Tor, wenn ich ihn für das Selfie brauche.
Am Mount Everest werben die Agenturen mit Yogakursen und einer exzellenten internationalen Küche auf Sterneniveau im Basislager. An sämtlichen Achttausendern liegen mittlerweile Fixseile vom Basislager bis zum Gipfel. Und zum Gipfel aufgestiegen wird, wenn der Meteorologe am anderen Ende der Welt den Startschuss dazu gibt.
Man ist so dermassen in einem Vollzugsmodus, dass man auch das Bergsteigen vollzieht. Man hatte sich ein existenzielles Erlebnis erhofft, diese Hoffnung erfüllt sich nicht, und dann steigt man auf einen noch höheren Berg, weil man meint, dann erfülle sich die Hoffnung. Hier kommt wieder der Thermomix ins Spiel. Man führt alles so aus, wie es ein anderer vorgibt. Ich persönlich gehe am liebsten einfach raus, ohne zu wissen, wohin es mich treibt. Das mache ich hier in Jena so, aber das mache ich auch oft, wenn ich irgendwo in die Berge zu einem Vortrag eingeladen werde.
Beim Bergsteigen sollte man schon einige Regeln einhalten. Zum Beispiel schadet ein Blick auf die Wetter-App sicher nicht.
Planung ist am Berg wichtig. Die Resonanzhaltung enthält ganz klar ein fürsorgeethisches Element. Dingen, mit denen wir in Resonanz treten, begegnen wir grundsätzlich mit Respekt, das sind ganz sensible Beziehungen. Und deshalb ist es das Gegenteil einer Resonanzbeziehung, wenn ich einen Enzian zertrete, um ein tolles Selfie zu machen. Und es ist auch nicht vereinbar mit Resonanz, auf einen Berg zu steigen und dafür in Kauf zu nehmen, dass der Helikopter einen abholen muss. Resonanz erfordert buchstäblich Achtung, Ehrfurcht vor dem Berg, ein Hinhören und Hinspüren zu ihm und nicht das Verlangen, es ihm in Rekordzeit zu zeigen.
Wie verstehen Sie Bergsteigen im Sinne Ihrer Resonanztheorie?
Der moderne Mensch kann heute fast alles machen. Wir sind extrem selbstwirksam, aber immer nur in Zusammenhang mit Technik. Auch politisch sind wir nicht wirksam. Wir haben eine starke Resonanzsehnsucht, erfahren sie aber nur selten. Wir erleben eine tiefe Krise der Selbstwirksamkeitserfahrung. Und bei unserer Suche nach der ultimativen Selbstwirksamkeitserfahrung überschreiten wir Grenzen. Beim Motorradfahren geben wir Gas, um zu zeigen, dass wir die Kontrolle haben. So ist das auch beim Skifahren. Und dieses Verlangen treibt einen auch auf Berge. Wir wollen dort die Erfahrung machen, dass wir die Welt unter Kontrolle bringen können, wenngleich wir ständig erfahren, dass die Welt eben nicht unter Kontrolle ist. Der Versuch der Moderne, die Welt verfügbar zu machen, hat paradoxerweise monströse Unverfügbarkeit erzeugt, wie sie uns in der Klimakrise, der nuklearen Bedrohung, sogar den Finanzmärkten begegnet.
Dabei wollen wir zugleich keine Risiken eingehen. Selbst bei einem Mikro-Abenteuer wollen wir das maximale Erlebnis haben.
Wir versuchen, mit der Unverfügbarkeit umzugehen. Auch bei Mikro-Abenteuern vollziehen wir nur Handlungsanweisungen, damit alles klappt. Das ständige Optimieren verhindert Resonanz. Resonanz erfahren wir nur als Handelnde, nicht als Vollziehende.
Letztlich sind wir maximal enttäuscht, weil wir das Abenteuer gar nicht so toll fanden.
Deshalb wollen wir die Grenzen weiter verschieben. Statt eines Mikro-Abenteuers muss es dann ein richtiges Abenteuer sein oder zumindest etwas, was wir dafür halten. Das hat die Moderne schon immer gekennzeichnet. Heute sehen wir das in einer Art systematischer Beschleunigung. Niemand kann mehr warten. Draussen am Berg dagegen wird die Zeit plötzlich wieder lang, sie dehnt sich. Pilgerwege sind so beliebt, weil man sich dort langsam bewegt. Beim Skifahren habe ich schon oft die Erfahrung gemacht, dass ich um 11 Uhr denke: «So, das reicht eigentlich für heute.» Aber der Skipass ist leider noch für fünf weitere Stunden gültig.
Paradox ist allerdings, dass auch das Bergsteigen beschleunigt wird. Der spanische Bergläufer Kilian Jornet schrieb im vergangenen Jahr Alpingeschichte, weil er die 82 Viertausender in nur 19 Tagen bewältigte. Tyler Andrews und Karl Egloff, ein schweizerisch-ecuadorianischer Bergführer, versuchten in der vergangenen Woche einen Geschwindigkeitsrekord am Mount Everest.
Dafür fehlt mir jegliches Verständnis. Wir übertragen die Steigerungslogik auf die Bergwelt. Damit verlieren die Berge alles, was man dort eigentlich sucht, nämlich eine Gegenerfahrung. Eine andere Weise des In-der-Welt-Seins geht dadurch verloren. Damit nehmen sich diese Menschen jegliche Möglichkeit, etwas anderes zu erfahren.
Zumindest die Profis wollen Geld verdienen, indem sie mit immer neuen Nachrichten Aufmerksamkeit erzeugen. Aber es gibt auch genug andere, die das Bergsteigen beschleunigen. Und die müssen nicht davon leben. Etwa die vier Briten, die von London nach Nepal flogen, auf den Everest stiegen und nach einer Woche wieder zurück in London waren. Beschleunigter geht es kaum noch. Die Messner/Habeler-Expedition brauchte 1978 insgesamt 99 Tage, um auf den Everest zu kommen.
Was wir heute sehen, ist eine Folge des gesellschaftlichen Sozialkomparatismus. Menschen vergleichen sich, treten in Wettstreit, besiegen einander. Worin wir uns vergleichen, worauf es ankommt, das kann ganz unterschiedlich sein. In der religiösen Gesellschaft zählt es, der Frömmste zu sein oder der Alruistischste. In anderen Gesellschaften zählt der Kriegstüchtigste. In unserer Gesellschaft wird der als besser erachtet, der im sozialen Wettstreit gewinnt. Interessant an der Beschleunigung beim Bergsteigen finde ich die schrankenlose Wettbewerbsorientierung auf einem wirklich fernen Feld, das nicht direkt etwas mit unserem alltäglichen Leben zu tun hat.
Und warum ausgerechnet am Mount Everest?
Das ist die höchste Grenze. Es geht nicht höher. Unser Begehren treibt uns an die Grenze zur Unverfügbarkeit. Dort finden wir oft die grösste Resonanz. Das Haustier lieben wir deshalb mehr als das Stofftier, weil das Haustier unberechenbar und unverfügbar ist. Der Mount Everest ist für die meisten unverfügbar und schickt denen, die es wagen, Lawinen und Steinschlag entgegen; er wird im Grenzkampf verfügbar. Wenn man nicht viel weiss über Berge, dann nimmt man den höchsten. Wer aber eine Resonanzbeziehung zum Mount Everest und zu den Bergen insgesamt hat, der macht nicht mit bei diesem Hype und dem Rennen.
Brauchen wir am Berg ein Tempolimit wie auf den Strassen?
Als bergaffiner Soziologe würde ich diese Steigerungslogik selbstverständlich einschränken wollen. Doch wie soll man das rechtlich durchsetzen? Wir müssen es kulturell schaffen, den Unsinn einzusehen, wie wir mit der Welt umgehen. Und selbst wenn ich in maximaler Beschleunigung auf drei Berge nacheinander steige, dann werde ich in keinem Fall in jene Resonanz kommen, nach der wir alle so sehr hungern.
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