Er baute das Schweizer Anti-Doping-System auf, jetzt würde er es am liebsten zerschlagen


Als Matthias Kamber im April 2017 seinen Abschied als Direktor von Antidoping Schweiz ankündigte, war er 63. In der Übergangsphase, so schildern es Wegbegleiter, habe er immer wieder angedeutet, in seinem Berufsleben noch anderes vorzuhaben. Was, blieb zunächst offen. Später wurde klar: Der Pionier im Kampf gegen illegale Substanzen im Schweizer Sport wechselte gewissermassen die Seiten.
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Zunächst erlitt Kamber in seiner zweiten Karriere eine Niederlage. Als der Sprinter Alex Wilson 2021 unter Dopingverdacht geriet, sprang ihm Kamber als Berater bei. Er erhob Vorwürfe gegen seine Nachfolger bei Swiss Sport Integrity (SSI), während Wilson behauptete, schuld an seinem positiven Test sei der Verzehr grosser Mengen Rindfleisch. Später sprach der Leichtathlet von einem Sabotageakt. Beide Theorien waren falsch: Wilson arbeitete mit einem amerikanischen Dealer zusammen, der Athleten einen ganzen Mix von Dopingsubstanzen beschaffte.
Beim nächsten öffentlich bekannten Fall lief es für Kamber deutlich besser. Nach einem Verfahren, das SSI schlecht aussehen liess, wurde der Mountainbiker Mathias Flückiger vom Dopingverdacht freigesprochen. Beim Transport und bei der Lagerung seiner Probe waren Fehler passiert.
Bisher war bekannt, dass Kamber wissenschaftliche Indizien für Flückigers Vermutung gesammelt hatte, sein Zeranol-Befund im Juni 2022 sei mit kontaminiertem Fleisch erklärbar. Jetzt zeigen Recherchen, dass sich Kambers Engagement darin nicht erschöpfte. Im September 2022 meldete er sich beispielsweise beim Direktor der Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada), um seine Amtsnachfolger zu diskreditieren: SSI, so Kamber, halte sich nicht an bestehende Regeln. Er sah sich, wie aus einem von ihm mitverfassten Dokument hervorgeht, in jenem Moment als Whistleblower.
Insgesamt stellte Kamber für seine Dienste im Fall Flückiger 22 656 Franken 40 in Rechnung. Die Disziplinarkammer des Schweizer Sports entschied, davon seien lediglich 1500 Franken zu erstatten. In der Begründung von Flückigers Freispruch heisst es dazu, die Durchsicht einer Rechnung Kambers deute «eher auf eine ‹Begleitung des Falles› hin als auf für den Prozess notwendige, zweckdienliche und angemessene Auslagen». Es seien diverse Positionen wie «Medienkonferenz» oder «Reisezeit Vortrag Thömus» aufgelistet.
Mit anderen Worten: Kambers Bemühungen beschränkten sich längst nicht auf das eigentliche Verfahren. Er versuchte mit beträchtlichem Aufwand, die öffentliche Meinung über SSI zu beeinflussen.
51 Vorschläge für bessere DopingbekämpfungKamber und weiteren Unterstützern Flückigers genügt der Freispruch nicht. In einem 25-seitigen Dokument greifen sie SSI frontal an. Das Schreiben enthält 51 Verbesserungsvorschläge. Punkt 44 lautet: «Es ist angezeigt, dass der Direktor von SSI öffentlich die gemachten Fehler eingesteht, sich entschuldigt, die finanzielle Gutmachung einleitet, die Verantwortung übernimmt und zurücktritt.»
Noch weitreichender als die Forderung an den SSI-Chef Ernst König, den Hut zu nehmen, ist der nächste Punkt. Aufgrund der «Inkompetenz in der Dopingbekämpfung» sei zu prüfen, ob sich die Schweizer Instanz in Zukunft nur noch mit Ethikverstössen und «höchstenfalls der Kontrolle von Nicht-Test-Pool-Athleten» befassen solle, also mit dem Amateurbereich. «Die Dopingbekämpfung bei Test-Pool-Athleten ist hingegen auszulagern. Eine Möglichkeit wäre, die International Testing Agency (ITA) mit Sitz in Lausanne mit diesen Schweizer Kontrollen zu beauftragen.»
Der Vorstoss markiert einen Bruch mit Kambers einstigen Bemühungen, in der Schweiz eine starke, unabhängige Anti-Doping-Instanz zu etablieren. Immer wieder hatte er sich gegen Einmischungsversuche internationaler Organisationen wie der Wada verwahrt. Heute attackiert Kamber das System, welches er selbst ins Leben rief.
Doping auf nationaler Ebene zu bekämpfen, ist weltweiter Standard. Der Inselstaat Vanuatu hat dafür eine eigene Instanz, ebenso wie das kommunistische Nordkorea oder das bettelarme Tschad. Dass die Schweiz die Aufgabe an eine länderübergreifende Agentur delegieren würde, wäre bemerkenswert.
Einstige Mitstreiter Kambers distanzieren sich von der Idee, zum Beispiel Corinne Schmidhauser. Die frühere Skifahrerin war als Präsidentin der Stiftung Antidoping Schweiz gewissermassen seine Vorgesetzte. «Kamber hat einen grossen Anteil am Aufbau des Anti-Doping-Systems in der Schweiz», sagt Schmidhauser. «Es ist irritierend, wie er sich heute positioniert.»
Sie halte den Vorschlag, das Vorgehen gegen Doping an fremde Instanzen zu delegieren, für völlig falsch, sagt die Juristin. «Um wirkungsvoll gegen illegale Substanzen im Sport vorgehen zu können, ist ein Wissen um die Besonderheiten und Spezialitäten des jeweiligen Landes entscheidend.» Es brauche Nähe. «Wem der Anti-Doping-Kampf am Herzen liegt, der kann einen solchen Vorstoss nicht unterstützen.»
Kamber bekräftigt seine Forderung in einem Telefongespräch. Später erklärt er, seine Zitate nicht autorisieren zu wollen, Inhalte des Gesprächs dürfen also nicht wiedergegeben werden.
Auch der SSI-Direktor Ernst König äussert sich nicht zu dem Dokument. «Wir von Swiss Sport Integrity haben dieses Papier nicht erhalten», sagt er. Die Aufforderung zum Rücktritt lässt er ebenfalls unkommentiert. König verweist darauf, dass die Wada derzeit ihr Regelwerk überarbeite, inklusive öffentlicher Vernehmlassung: «Alle Interessierten können dort ihre Vorschläge einbringen.»
Im Umfeld von SSI ist das Unverständnis über die Initiative gross. In Gesprächen wird darauf verwiesen, dass die Instanz jedes Jahr 400 bis 500 Dopingkontrollen für Dritte vornehme, etwa für Eventorganisatoren, internationale Verbände – und auch für die Agentur ITA. Die regelmässigen Aufträge bedeuteten offensichtlich, dass die Arbeit von SSI geschätzt werde, heisst es. Zumal man Schweizer Löhne zahle und entsprechend teuer sei. Betont wird auch, SSI habe im vergangenen Jahr nach einem mehrtägigen Besuch von Wada-Experten Bestnoten erhalten.
Manche Vorschläge des Flückiger-Teams wirken mit Blick auf das Verfahren gegen den Mountainbiker schlüssig. So regen die Autoren an, bei möglichen Dopingvergehen eine Frist von 72 Stunden von der Information an den Athleten bis zur Veröffentlichung vorzuschreiben. Dies würde den beteiligten Personen ermöglichen, Abklärungen zu treffen.
Bei Flückiger lief es anders: Sein Verband Swiss Cycling war am Vorabend der Europameisterschaften im Juli 2022 über seine verdächtige Probe informiert worden. Unmittelbar anschliessend sprachen mehrere Protagonisten öffentlich von einem «positiven» Ergebnis. Das war falsch und aus Flückigers Sicht rufschädigend: Wegen der tiefen Konzentration lag lediglich ein «atypisches Resultat» vor.
Athleten grenzen sich von Vorstoss abIm Februar 2025 kam es auf Einladung von Swiss Olympic zu einer Aussprache, an der auch der SSI-Direktor König und Flückiger teilnahmen. Die Runde einigte sich auf mehrere Reformvorhaben, beispielsweise eine Straffung von Dopingverfahren. Künftig sollen diese nach vier bis sechs Monaten abgeschlossen sein.
An dem Treffen nahm als Vertreter der Athletenkommission von Swiss Olympic auch der Marathonläufer Matthias Kyburz teil. Er begrüsst die geplante Verfahrensbeschleunigung. «Eine weitere Lehre aus dem Fall Flückiger lautet für uns, dass Athleten besser über ihre Rechte informiert sein müssen», sagt Kyburz. «In Schulungen ist darauf einzugehen, welche Möglichkeiten jemand im Falle eines atypischen oder positiven Tests hat, sich zu wehren.» Auch die Forderung nach längeren Sperrfristen bei der Kommunikation von Verdachtsfällen hält der mehrfache Weltmeister im Orientierungslauf für richtig.
Von den weitreichenderen Vorstössen grenzt sich Kyburz im Namen der Schweizer Sportler allerdings ab. Man sei der Auffassung, dass es einen «Fall Flückiger» kein zweites Mal geben dürfe, sagt er zwar. Aber: «Der Forderung nach personellen Konsequenzen und einem Radikalumbau bei SSI schliesst sich die Athletenkommission nicht an. Wir haben Vertrauen in das Schweizer Anti-Doping-System. Dessen Vertreter leisten nach unserer Einschätzung gute Arbeit, besonders wenn wir es mit dem Ausland vergleichen.»
Auch bei Swiss Olympic blitzt Kamber ab. Ein Sprecher der Dachorganisation erklärt auf Anfrage, man habe Kenntnis von seinem Dokument. Massnahmen, welche am Februartreffen beschlossen worden seien, würden raschestmöglich umgesetzt. Auf die zusätzlichen Forderungen trete man nicht ein: «Es gibt keinen Dialog spezifisch zu diesen Punkten.» Deckungsgleich äussert sich das Bundesamt für Sport: «Massgeblich ist, was am runden Tisch beschlossen wurde.»
Kamber, der einst hochgeschätzte Doping-Jäger, hat in der Szene keinen Rückhalt mehr.
Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»
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