Lattenknaller, dreimal Schock: In 16 Minuten implodiert Pokalschreck Bielefeld

Was wäre gewesen, wenn ...
(Foto: IMAGO/Contrast)
Arminia Bielefeld, der Drittligist, der die Favoriten ärgert. Diesen Ruf erarbeitet sich der Klub in dieser Saison. Und schickt sich im DFB-Pokalfinale an, das auch mit dem VfB Stuttgart zu tun. Die erste Chance aber knallt an die Latte - und danach kommt es fast im Minutentakt ganz dicke.
Die Fans rund ums Marathontor waren schon aufgesprungen - und hielten dann entsetzt den Atem an. Es konnte nicht wahr sein: Der Ball war nicht im Tor. Blau-weißes Entsetzen. Auf den Tribünen und auf dem Platz. Statt ins Tor knallt der Ball an die Latte. Mit Schmackes.
Noah Sarenren Bazee hatte die Führung auf dem Fuß. Er hätte Arminia Bielefeld im Finale des DFB-Pokals gegen den VfB Stuttgart in Führung bringen können. Den Underdog wieder einmal als gefürchteten Favoritenschreck dastehen lassen können. Er machte es nicht. Eigentlich unfassbar, was da in der 12. Minute passiert war.
Joel Grodowski war auf dem linken Flügel den unsortierten Stuttgartern enteilt, passte flach hinein in den Strafraum. Louis Oppie traf den Ball nicht richtig, hatte aber Glück, dass der abgefälscht zu Sarenren Bazee ging. Der 28-Jährige stand völlig frei vor Alexander Nübel. Doch der Jubel blieb aus - das Entsetzen breitete sich aus. Und kroch den Arminen in den folgenden Minuten so richtig in die Knochen.
Tore: 0:1 Woltemade (15.), 0:2 Millot (22.), 0:3 Undav (28.), 0:4 Millot (66.), 1:4 Kania (82.), 2:4 Vagnoman (85., Eigentor)Bielefeld: Kersken - Hagmann (46. Lannert), Großer, Schneider, Oppie - Russo - Schreck (46. Young), Corboz - Sarenren-Bazee (59. Felix), Wörl (83. Kunze) - Grodowski (80. Kania). - Trainer: KniatStuttgart: Nübel - Vagnoman, Jaquez, Chabot (76. Jeltsch), Mittelstädt - Karazor, Stiller (87. Nartey) - Millot (69. Demirovic), Undav, Führich (69. Hendriks) - Woltemade. - Trainer: HoeneßSchiedsrichter: Christian Dingert (Lebecksmühle)Gelbe Karten: Sarenren-Bazee, Schneider, Felix - Vagnoman, MillotZuschauer: 74.036 (ausverkauft)
Das alte Motto: Machste ihn vorne nicht, kriegste ihn hinten, es gilt auch an diesem Samstagabend. Denn nur drei Minuten später war es der VfB, der jubelte. Der Platzwahl bedingt vor der Bielefelder Kurve. Es traf Nick Woltemade. Der Stürmer, der gerade einfach immer trifft - und sich so einen arbeitsreichen Sommer verschafft, weil er erstmals von Bundestrainer Julian Nagelsmann für das Final Four der Nations League eingeladen ist und anschließend auch noch die U21-EM spielen soll.
0:1 also aus Bielefelder Sicht - dank ihrer unfreiwilligen Mithilfe. Mael Corboz hatte den Ball unkontrolliert in die Füße des zum Finale blitzgenesenen Angelo Stiller gespielt. Der schaltete schnell und gab den Ball sofort weiter auf halblinks zu Woltemade. Der Mann, der die Wandlung von "Stolpermade" zu "Woltemessi" schaffte, lief allein auf Torhüter Jonas Kersken zu. Der bekam zwar noch eine Hand an den Ball, konnte ihn aber nicht mehr aufhalten.
Bielefeld patzt, Stuttgart nutzt es eiskaltAls wäre das nicht schon Dämpfer genug, ging es für Bielefeld direkt ganz bitter weiter. In der 22. Minute vollendete Enzo Millot zum 0:2 - und das nach einer Ecke für die Arminia. Wieder war es Stiller, der sich entscheidend einmischte, nach seinem Befreiungsschlag behinderten sich Schreck und Wörl gegenseitig, was den Ball zu Millot brachte. Der passte den Ball sofort zum mitsprintenden Deniz Undav, lief aber weiter mit. Zu zweit preschten sie auf das Arminia-Tor zu. Kersken machte sich möglichst breit, doch Undav gab auf Millot ab und der musste nur noch ins verwaiste Tor einschieben.
Während sich also die VfB-besetzte Ostkurve anschickte, die Party weiter eskalieren zu lassen, wurde es gegenüber langsam stiller. Und nur sechs Minuten später war der Stecker endgültig gezogen. 0:3, diesmal machte es Undav selbst. Wieder war es ein Bielefelder Individualfehler: Maximilian Großer verlor im Aufbauspiel den Ball an Stiller - natürlich wieder Stiller, der wohlgemerkt vor zwei Wochen eine Sprunggelenksverletzung erlitten hatte -, der schickte sofort Undav tief und der Nationalspieler konnte vor den Augen von Nagelsmann zum endgültigen Tiefschlag für den Underdog vollenden.
Während Nübel aus seinem Tor an die Seitenlinie eilte und freudig alle seines Teams umarmte, die irgendwie in der Nähe waren, griff die Schockstarre bei den Blau-Weißen. Die Fans waren wie gelähmt, die Fahnen hingen nur noch schlaff herum. Gerade einmal 28 Minuten gespielt, aber doch alles entschieden. Der Glaube, der die Arminia bis ins Pokalfinale getragen hatte, er war verpufft. Untergegangen im Jubel des Gegners.
"Aber ist auch scheiße""Es waren so 10, 15 Minuten, in denen wir nicht da waren. Die hat der Gegner eiskalt genutzt", sagte Trainer Mitch Kniat nach dem Spiel beim ZDF. Vier Bundesligisten hatte der Drittligist, der den Aufstieg in die 2. Liga geschafft hat, aus dem Wettbewerb gekegelt. Den 1. FC Union, den SC Freiburg, Werder Bremen und im Halbfinale schließlich Titelverteidiger Bayer Leverkusen. Dem fünften machte erst Sarenren Bazee ein Geschenk, dann erwies sich der VfB als zu gierig und Fehler ausnutzend. "Wir haben einfach zu viele individuelle Fehler gemacht, die bestraft wurden", so Christopher Lannert.
Immerhin, zumindest in der Kurve gingen die Köpfe irgendwann wieder hoch, auf dem Rasen waren sie ohnehin nie ganz unten. Trotz griff um sich. Und der Stolz, es überhaupt bis nach Berlin geschafft zu haben.
Beinahe wäre in der Schlussphase sogar die Euphorie wieder richtig hochgekocht. Ein Spiel zwischen zehn und 140 Dezibel. Denn plötzlich fiel das 1:4, der zwei Minuten zuvor eingewechselte Julian Kania erzielte es in der 82. Minute. Er ist jetzt der erste Drittliga-Spieler, der ein Tor in einem Pokalfinale schoss. Ein Ehrentreffer, so schien es zumindest, nett, aber nutzlos. Oder? Denn plötzlich ließ das 2:4 in der 85. Minute einige blau-weiße Herzen wieder schneller schlagen. Josha Vagnoman sorgte mit seinem Eigentor für Schnappatmung - auf beiden Seiten. Würde es das irrste Comeback aller Zeiten geben?
Ein Spiel zwischen Resignation und unrealistischer Hoffnung, die um 21.58 Uhr endgültig beendet war. Abpfiff. 2:4. Verloren. "Ich sag immer, ein 4:0 sieht scheiße aus, ein 4:2 ist ein bisschen schöner, aber ist auch scheiße", so Lannert.
Und doch waren die "Bielefeld, Bielefeld"-Rufe fast genauso laut wie zu Beginn des Abends. "Ich trage die Medaille mit stolz und ich bin ganz, ganz stolz auf meine Mannschaft. Das sind die zwei Dinge, die für die Ewigkeit bleiben", so Kniat. Noch dazu gibt es ja trotzdem was zu feiern.
Sie waren in Berlin, das Team und um die 100.000 Fans. Sie sind in die 2. Liga aufgestiegen. Und es war auch das Einsingen für die morgige Meisterfeier und den Donnerstag. Dann steht die Arminia schon wieder in einem Pokalfinale. Gegen die Sportfreunde Lotte geht es um den Westfalenpokal.
Quelle: ntv.de
n-tv.de