Hannover 96 unter Christian Titz: Was wird aus Hannover?

Als Fury In The Slaughterhouse 2021 in der WDR-Sendung „Rockpalast“ gemeinsam mit Thees Uhlmann dessen Song „Was wird aus Hannover“ coverten, schloss sich ein Kreis. Für Uhlmann, der gerade sein drittes Soloalbum „Junkies und Scientologen“ in den Konzertclubs des Landes vorstellte, dürfte dieser Moment von großer Bedeutung gewesen sein. Schließlich referiert er in seinem Hannover-Song über die Band. Bisher ist niemand auf die Idee gekommen, sie in einem Stück zu erwähnen. Auch nicht darauf, der niedersächsischen Landeshauptstadt ein Preislied zu widmen. Jener Stadt, der das Stigma der Durchschnittlichkeit so lästig anhaftet, wie kaum einer zweiten und damit vermeintlich wenig Stoff für künstlerischen Output bietet. Uhlmann widerlegt dies kurzerhand, würdigt die Scorpions als größtes musikalisches Exportgut der Stadt und stellt die Verbindung zwischen Mousse T. und Tom Jones her (ersterer stammt aus Hannover und hat die Musik für den Hit „Sexbomb“ geschrieben). Sogar der für Nutzfahrzeuge werbende Fernsehturm am Hannoveraner Hauptbahnhof findet Beachtung. Bedauerlicherweise war Christian Titz zu diesem Zeitpunkt gerade erst Trainer bei Magdeburg geworden und schaffte es somit nicht in die Aufzählung.
Stattdessen rollte Titz, der im Winter 2021 nach Magdeburg gekommen war, mit dem 1. FCM durch die dritte Liga und führte das Team mit aufregendem Offensivfußball vom Keller in Richtung Tabellenspitze. Ein Jahr später stiegen die Magdeburger folgerichtig in die zweite Bundesliga auf. Dort konnte sich der Aufsteiger wider Erwarten etablieren, galt zwischenzeitlich sogar als Geheimtipp im Aufstiegsrennen. Die abgelaufene Spielzeit beendete der 1. FC Magdeburg auf dem fünften Tabellenrang, stellte die zweitbeste Offensive der Liga. Am vergangenen Sonntag hat Hannover 96 den 54-Jährigen als neuen Chef-Trainer vorgestellt. Die Frage, was aus Hannover wird, liegt nun also zumindest in sportlicher Hinsicht in seinen Händen.
In den vergangenen Jahren war Hannover 96 im Aufstiegsrennen eher die Rolle der Statisten vorbehalten. Das soll sich unter Titz nun ändern. Der Verein wolle „loslegen und anpacken“, hieß es in der branchenüblichen Vorstellung. Die Voraussetzungen dafür könnten kaum besser sein.
Denn die kommende Zweitliga-Saison bietet eine seltene Ausgangslage: Mit dem HSV und dem 1. FC Köln zurück in der Bundesliga fehlen klare Favoriten im Aufstiegsrennen. Für Hannover ist das die große Chance, diese Lücke zu schließen. Seit Jahren sehnen sich die Fans nach einem Trainer, der nicht nur Ergebnisse liefert, sondern auch Fußball spielen lässt, wie er Hannover in Slomka-Tagen einst ausgezeichnet hatte: technisch anspruchsvoll, offensiv, mutig. Unter Stefan Leitl blieb diese Sehnsucht unerfüllt. Auch André Breitenreiter priorisierte zunächst die defensive Stabilität, was die Spielanlage oft statisch wirken ließ.
Christian Titz steht für eine mutige, offensive Spielweise. In Magdeburg ließ er zwischenzeitlich den vielleicht schönsten Fußball der Liga spielen, ehe Horst Steffens Elversberg die Liga aufmischte – und das mit einem Kader, der finanziell weit hinter den Möglichkeiten von Hannover zurücklag. Vergangene Saison erzielten die Magdeburger 64 Tore, allein der Hamburger Sport-Verein, mit dem Titz eine Geschichte verbindet, traf häufiger. Auch dank Martijn Kaars. Der Stürmer kam aus der zweiten niederländischen Liga und erzielte 19 Treffer in der abgelaufenen Spielzeit. Christian Titz machte aus dem Zielspieler einen mannschaftsdienlichen Leader mit Qualitäten im Gegenpressing: 363 abgespulte Kilometer hat Kaars vorzuweisen, einer der Top-Werte in Liga zwei. Auch Livan Curci, 20-Jähriger Leihspieler von Union Berlin, entwickelte sich unter Titz in Magdeburg mit elf Scorerpunkten zu einem absoluten Leistungsträger. Diese Fähigkeit, Spieler gezielt an seine Philosophie heranzuführen, wird in Hannover entscheidend sein. Schließlich steht der Kader vor einem Umbruch.
Immer wieder betonen Wegbegleiter seine Stärken in der zwischenmenschlichen Kommunikation und heben positiv den Umgang mit Spielern hervor. Baris Atik, der in früheren Stationen öfter an seine Trainer geraten war, sagte als Spieler des 1. FC Magdeburg über Titz: „Er war extrem wichtig für mich. Weil er mit mir spricht. Weil er mich machen lässt. Ich war immer gut, wenn ich einfach Baris sein durfte.“ Auch seine inhaltliche Arbeit erfuhr in der Vergangenheit Wertschätzung: „Er hat klug einen guten Stab mit Experten ausgesucht, dazu den Kader sehr intelligent aus- und aufgebaut“, lobte der Sportfunktionär Bernhard Peters gegenüber dem RND Titz Arbeit in Magdeburg. Beide hatten in Hamburg eng zusammengearbeitet.
Titz fußballerischer Ansatz könnte den entscheidenden Unterschied machen. Gerade in der zweiten Liga, wo in der Vergangenheit Teams mit einer offensiven Spielphilosophie die Nase vorne hatten (siehe St. Pauli, Kiel und HSV). Mit viel Ballbesitz und einer klaren Struktur passten sich Titz-Mannschaften bisher nicht dem Gegner an, sondern brachten ihr eigenes Spiel aufs Parkett. Das birgt auch Risiken, doch es schafft eine Identität. Und genau das hat Hannover zuletzt gefehlt: eine fußballerische DNA, die zu den sportlichen Ambitionen passt.
In Magdeburg führte die offensive Ausrichtung der Mannschaft allerdings auch oft zu vermeidbaren Gegentoren, die in entscheidenden Momenten Punkte kosteten. Genau hier könnte Hannover von seiner Vergangenheit profitieren: Leitl und Breitenreiter predigten defensive Stabilität, die nun mit Titz offensiver Philosophie kombiniert werden könnte. Diese Balance haben die Niedersachsen in der abgelaufenen Spielzeit missen lassen.
Fans des Hamburger SV beklagen übrigens bis heute, dass Titz in der Saison 2018/2019 überhastet entlassen worden sei. Rund um den Volkspark munkeln sie, dass unter ihm ein früherer Aufstieg möglich gewesen wäre. Auch in Essen stieß seine Entlassung seitens der Anhängerschaft größtenteils auf Unverständnis. Beim HSV und an der Hafenstraße hatten sie keine Geduld mit Titz. Was passiert, wenn man ihm Zeit gibt, zeigt seine Akte beim 1. FC Magdeburg. Vielleicht nehmen sich die Verantwortlichen in Hannover, die in der Vergangenheit eher weniger Geduld mit ihren Trainern zeigten, den FCM ja zum Vorbild. Dann könnte Christian Titz die uhlmannsche Frage, was denn nun aus Hannover wird, vielleicht sogar positiv beantworten.
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