Clean Deal der EU: Dieses Industrieprogramm soll Europa wieder fit machen
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Brüssel. Die Erwartungen an die große Industriestrategie der EU sind enorm: „Sie wird die Wettbewerbsfähigkeit fördern, unsere strategische Unabhängigkeit stärken und den Klimaschutz beschleunigen – und das alles auf einmal“, überschlug sich EU-Klimakommissar Wopke Hoekstra am Mittwoch regelrecht bei der Präsentation der Pläne in Brüssel. „Der Clean Industrial Deal ist ein Meilenstein für die europäische Wirtschaft.“ Dieser Businessplan mache Europa wieder zu einem Industriestandort. Wachstumstreiber soll die Förderung einer klimafreundlichen Industrie sein, die langfristig zum Wettbewerbsvorteil werden soll. Schon in Kürze sollen etwa europäische Firmen bei öffentlichen Aufträgen bevorzugt den Zuschlag erhalten.
Es ist ein gigantisches Paket aus Gesetzesänderungen und Initiativen, das die europäische Wirtschaft wieder auf Kurs bringen und Verbraucherinnen und Verbraucher entlasten soll. Im Kern geht es um weniger bürokratische Pflichten für Unternehmen, mehr Investitionen und ein besseres Geschäftsumfeld. Der Plan setzt auf bezahlbare Energie, Leitmärkte für saubere Industriezweige wie mit Wasserstoff produzierten Stahl und die Förderung von Kreislaufwirtschaft. Ebenso auf die Unabhängigkeit von kritischen Rohstoffen und einen sozialen Ausgleich. Zwar hält die EU an ihren Klimazielen fest, doch Umweltauflagen werden in Zukunft stärker an wirtschaftliche Notwendigkeiten gekoppelt.
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Windräder stehen vor dem Braunkohlekraftwerk Niederaußem in Nordrhein-Westfahlen.
Quelle: Federico Gambarini/dpa
Die hohen Energiekosten in Europa haben Unternehmen und Haushalte in den letzten Jahren stark belastet. Ein neuer Aktionsplan sieht vor, die Strom- und Gaspreise gezielt zu senken, indem Genehmigungsverfahren für erneuerbare Energien beschleunigt, Netzgebühren gesenkt und Steuern auf Energie reduziert werden. „Wir treiben die Energiepreise nach unten und die Wettbewerbsfähigkeit nach oben“, so EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Die EU-Staaten sollen mehr Möglichkeiten bekommen, durch staatliche Subventionen die Energiepreise zu senken. Darüber hinaus setzt Brüssel auf langfristige Verträge und grenzüberschreitenden Stromhandel. Industrie und Haushalte sollen dadurch bereits in diesem Jahr von Einsparungen in Höhe von 45 Milliarden Euro profitieren, die sich Jahr für Jahr weiter erhöhen. 2040 rechnet man mit jährlichen Ersparnisse von 260 Milliarden Euro.
Strom sei der Treibstoff der Energiewende und der Energieträger, der Europa unabhängig von Russland, Katar und anderen problematischen Lieferanten machen könne, sagte CDU-Politiker Peter Liese. „Ob die Wärmepumpe beim Heizen von Häusern, das Elektroauto im Individualverkehr oder die Elektrifizierung industrieller Prozesse – nicht ausschließlich, aber oft liegt die Lösung im Strom.“ Besonders wichtig sei daher die Reduzierung der Strompreise für den Normalverbraucher und für die Industrie, lobte Liese die Vorschläge der Kommission.
Ursula von der Leyen,
EU-Kommissionspräsidentin
Weitere Stellschrauben: Die Anforderungen der EU an die Nachhaltigkeitsberichterstattung sollen in Zukunft für weniger Unternehmen gelten. Statt wie ursprünglich vorgesehen bereits Firmen mit 250 Mitarbeitern in die Berichtspflicht einzubeziehen, wären nun erst Unternehmen betroffen, die einen Jahresumsatz von über 450 Millionen Euro erzielen und mindestens 1.000 Angestellte haben. Diese Unternehmen müssten offenlegen, in welchem Maße sie die ökologischen und sozialen Ziele der EU erfüllen – etwa hinsichtlich ihres CO₂-Ausstoßes in Produktionsländern oder der Arbeitsbedingungen in Zulieferbetrieben. Für 80 Prozent der derzeit betroffenen Unternehmen fällt die Berichtspflicht weg.
Ebenso schwächt die Kommission das Lieferkettengesetz ab, das noch nicht einmal in Kraft getreten ist. So sollen die Unternehmen künftig nur noch ihre direkten Lieferanten überprüfen und nicht, wie bisher vorgesehen, Zulieferer über die gesamte Lieferkette hinweg. Auch der CO₂-Grenzausgleichsmechanismus (CBAM), eines der wichtigsten Klimaschutzgesetze, soll für 90 Prozent der Unternehmen nicht mehr gelten. Dennoch würden über 99 Prozent der Emissionen noch erfasst werden, so Hoekstra. Die Ausgleichszahlung zahlen Importeure auf Stahl, Aluminium, Zement und Düngemittel aus dem außereuropäischen Ausland. Die Zahlungen sollen verhindern, dass europäische Unternehmen durch strengere Vorgaben benachteiligt werden.
Das große Bürokratieabbaupaket wird zwar grundsätzlich von allen Seiten begrüßt. Doch immer häufiger wurde in den letzten Tagen Unmut laut, dass die Kommission Gesetze korrigieren oder über Bord werfen will, die gerade erst nach langen Verhandlungen vom Parlament und dem Gremium der 27 Mitgliedstaaten verabschiedet wurden.
Sozialdemokraten, Grüne und Umweltverbände warnen daher vor einer Abwicklung des Green Deals, dem Umwelt- und Klimaschutzprogramm der EU. „Unter dem Deckmantel des Bürokratieabbaus soll hier die Gesetzgebung verwässert werden“, kritisierte SPD-Handelspolitiker Bernd Lange. „Das ist ein Etikettenschwindel.“ Die Achtung von Arbeitnehmerrechten stehe nicht zur Disposition. Die EU-Abgeordnete Anna Cavazzini (Grüne) warnte: „Ein Kahlschlag bei Nachhaltigkeits-Gesetzen wird die strukturellen Probleme der Wirtschaft nicht lösen.“ Die Schwäche der europäischen Industrie liege am China-Schock, fehlender Innovationskraft, hohen Energiepreisen durch den Angriffskrieg in der Ukraine, zu geringen Investitionen, aber sicher nicht am EU-Lieferkettengesetz, das noch nicht einmal in Kraft sei.
Um die Transformation zu finanzieren, will die EU in den kommenden Jahren mehr als 100 Milliarden Euro bereitstellen. Dies soll durch neue staatliche Beihilferegeln, private Investitionen und Kredite der Europäischen Investitionsbank und eine Anpassung des Emissionshandelssystems geschehen. Besondere Unterstützung erhalten den Plänen zufolge etwa Unternehmen, die in Clean-Tech-Produktion investieren oder ihre Produktionsprozesse effizienter gestalten.
rnd