Die Menschheit mass in Ellen, Fuss und Sack. Bis vor 150 Jahren ein revolutionärer Vertrag unterschrieben wurde


Eine kurze Geschichte der Masseinheiten zum Jubiläum von Urmeter und Urkilogramm – auch wenn diese schon wieder ausgedient haben.
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Die Schweiz hatte schon einen Präsidenten, für andere Länder unterzeichneten noch Majestäten: Der Deutsche Kaiser, der König von Schweden und Norwegen, der Kaiser von Brasilien – sie alle stimmten vor 150 Jahren, am 20. Mai 1875, einem Vertrag zu, der ein grosses internationales Problem lösen sollte: das Chaos der Masseinheiten.
Der «Vertrag betreffend die Errichtung eines internationalen Mass- und Gewichtsbureaus», kurz Metervertrag, legte fest, was ein Kilogramm ist und was ein Meter – und welche Institution darüber entscheiden darf. Er war revolutionär. Und er ist noch heute in Kraft, auch wenn Kilos und Meter nicht mehr dem Urkilogramm und dem Urmeter entsprechen, die in Pariser Tresoren liegen.
Wann genau der Mensch begonnen hat, zu messen, ist schwer zu beziffern. Klar ist, ab einer gewissen Komplexität des Zusammenlebens wird es nötig. Wer ein Haus bauen will, muss ausrechnen können, wie gross Steine und Bretter sein sollen. Wer handeln oder Steuern eintreiben will, dem hilft ein Mass, um Mengen zu vergleichen.
Ein Mass, das man immer dabei hat, ist der eigene Körper: die Spanne der Hand, die Breite des Daumens, die Länge eines Schrittes. Für manche Zwecke reicht das. Doch dass Körperteile sich je nach Person unterscheiden, wird spätestens dann zum Problem, wenn man Pyramiden bauen will.
Von der nubischen Elle zu Luzerner Fuss, Malter und MüttAlso gingen Menschen dazu über, Längen anhand der Körperteile von wichtigen Personen zu standardisieren. Eines der ältesten bekannten Längenmasse wurde vor mehr als 3000 Jahren in Ägypten verwendet. Es stellt eine Armlänge vom Ellbogen bis zur Spitze des Mittelfingers dar. Die Seiten der grossen Pyramide von Gizeh sind genau 440 solcher Ellen lang.
Universal History Archive / Getty
Im heutigen Pakistan fand man 4000 Jahre alte Steinwürfel, die genau 836 Gramm oder ein Vielfaches davon wiegen: Offensichtlich dienten sie als Gewichte.
So legten verschiedene Gemeinschaften ihre Masse fest. Wer «international» zu tun hatte, musste eben umrechnen, wie lang die nubische Elle im Vergleich zum römischen Fuss war. Mit Herrschaftsverhältnissen und Brauchtum änderten sich auch die Masse. Dieser Zustand dauerte bis zur Industrialisierung. In der Schweiz koexistierten vorher unter anderem der Nürnberger und der Luzerner Fuss und lokale Fuss-Einheiten in Berggebieten. Fleisch wurde in Pfund gemessen, das je nach Gegend verschieden definiert war, Getreide und Hülsenfrüchte in Hohlmassen wie Malter und Mütt.
Rathäuser oder Kirchen verwahrten die offiziellen Referenzmasse, mit denen Waagen und Längenmasse kalibriert und überprüft wurden. Im Berner Zytgloggeturm hängen die historische Längenmasse bis heute.


Es waren die französischen Revolutionäre, die dieser Willkür ein Ende bereiten wollten. «Gleichheit» sollte nicht nur für Menschen, sondern auch für Masseinheiten gelten, und zwar «allen Völkern für alle Zeiten». Dazu wollte man das Mass statt vom Menschen von der Natur ableiten.
Dabei gab es mehrere Kandidaten. Für den Meter zum Beispiel das Sekundenpendel, also die Länge, die ein Pendel haben muss, um genau im Sekundentakt zu schwingen. Die Schwingung hängt allerdings vom Breitengrad ab, das wusste man damals schon. Also einigte man sich auf ein anderes Mass: den zehnmillionsten Teil des Viertelkreises des Meridians von Paris. In der chaotischen Zeit nach der Revolution dauerte die Vermessung mehr als sechs Jahre. 1799 war es endlich so weit: Ein Prototyp des Meters wurde in Messing gegossen. Die Franzosen hatten ihren Standardmeter.
Durch Napoleons Feldzüge breitete sich der Meter weiter aus. Nach Abzug der französischen Truppen war die Frage, mit was man messen wolle, ein Politikum in der Schweiz.
Zwölf Kantone einigten sich 1835 auf den Schweizer Fuss. «Ein typisch schweizerischer Kompromiss», sagt Jürg Niederhauser, Leiter Direktionsgeschäfte am Metas-Institut, das in der Schweiz für die Vermessung und Eichung zuständig ist. Denn der Schweizer Fuss war genau dreissig Zentimeter lang. «Jeder konnte mit dem System rechnen, das er vorzog, das Umrechnen war einfach. Damit waren alle zufrieden – einzig Uri äusserte Unbehagen.»
Der Urmeter war von Anfang an zu ungenau für PhysikerIn den folgenden Jahrzehnten wurde allerdings immer klarer, dass es internationale Messstandards brauchen würde, wenn man Fortschritt und Handel nicht bremsen wollte. Und so kam es zum Staatsvertrag von 1875, bei dem sich siebzehn Staaten, die sich teilweise feindlich gesinnt waren, darauf einigten, das metrische System zu übernehmen.
Mit der Convention du Mètre wurden zwei Institutionen gegründet: die Konferenz für Mass und Gewicht, die über internationale Masse entscheiden sollte, und das Internationale Büro für Mass und Gewicht in Paris, das neue Urmasse anfertigen und hüten sollte. Die Artefakte, die man damals schmiedete, bildeten tatsächlich für viele Jahrzehnte die Grundlage allen Messens.
Dabei gab es schon damals Physiker, die sich mit Dingen befassten, die vielfach kleiner waren als die etwa zwanzig Mikrometer breiten Rillen auf dem Urmeter. Der Physiker James Maxwell hatte schon 1870 gesagt, dass man universelle Masse besser auf Atome als auf den Planeten Erde gründen sollte.
Das Laserlicht machte dem Urmeter den GarausTrotzdem überlebte der Urmeter erstaunlich lang. Erst 1960 begann sein Ende. Damals definierte man ihn als Vielfaches der Wellenlänge der Strahlung von Kryptonatomen neu. Doch man ahnte bereits, dass auch diese Definition nicht für die Ewigkeit gelten würde. Mit der Erfindung des Lasers zeichnete sich eine Möglichkeit ab, den Meter genauer zu definieren.
Im Jahr 1983 dreht die Konferenz für Mass und Gewicht den Spiess um. Anstatt die Lichtgeschwindigkeit über die Entfernung zu messen, die das Licht in einer Sekunde zurücklegt, definierte man den Meter über die Lichtgeschwindigkeit. Seitdem ist ein Meter die Strecke, die Licht in einem 299 792 458stel einer Sekunde zurücklegt. Wie weit genau das ist, mussten Experimente zeigen. Klar war aber: Bei diesen Experimenten würde «ein Meter» herauskommen.
Man könnte nun argumentieren, dass dieser Trick das Problem einfach verschiebe, schliesslich müssen Sekunden ja immer noch gemessen werden. Doch Zeit kann man viel genauer messen als Entfernungen. Deshalb war die Umstellung ein Fortschritt.
Jürg Niederhauser / Metas
Als das Urmeter bereits lange ausgedient hatte, genoss der Urkilogramm noch höchste Wichtigkeit. Bis ins 21. Jahrhundert basierte alle Gewichtsmessung auf dem Artefakt von 1889, das wiederum auf Messungen aus dem 18. Jahrhundert aufbaut. «Das war eine peinliche, eine skandalöse Situation», fasste es der Physiknobelpreisträger William Philipps 2024 rückblickend bei einem Vortrag zusammen.
Ursprünglich hatte man das Kilo vom Meter abgeleitet. Ein Kilogramm ist das Gewicht eines Liters Wasser, also des tausendsten Teiles eines Kubikmeters. Das ist praktisch, schliesslich gibt es Wasser überall. Genau ist es allerdings nicht. Wasser ist schwer zu wägen. Es klebt am Gefäss, hat Oberflächenspannung, die Dichte schwankt mit der Temperatur.
Das Kilogramm wurde bis 2019 stetig schwererAlso stellte das Büro für Mass und Gewicht nach seiner Gründung ein Urkilogramm her: einen Zylinder aus Platin und Iridium, der seit seiner Herstellung unter drei Glasglocken sicher verstaut ist und nur selten hervorgeholt wird, um Waagen zu kalibrieren, die wiederum zur Herstellung von Gewichten dienen. Der Schutz war wichtig – denn hätte jemand seine Fingerabdrücke auf dem Urkilogramm hinterlassen, hätten alle Menschen an Gewicht verloren.
Tatsächlich passierte das Gegenteil: Im Vergleich zu seinen Kopien wurde das Urkilogramm stetig leichter. Da das Urkilogramm jedoch definiert, was ein Kilogramm ist, führte das zu der absurden Situation, dass alle Kopien des Urkilogramms leichter wurden.
Auf eine Lösung einigte sich die Konferenz 2019. Wie vorher schon der Meter wurde das Kilogramm aufgrund einer Naturkonstante neu definiert. Seit damals bestimmt nicht mehr ein zentralisiertes Objekt alle Gewichte der Welt, sondern eine Naturkonstante: die Planck-Konstante, welche den Zusammenhang von Energie und Schwingung eines Photons beziffert. Theoretisch reichen Physikwissen und ein sehr gut ausgerüstetes Labor, um daraus das Gewicht des Kilogramms an jedem Ort der Welt zu rekonstruieren.
Man hatte Jahrzehnte an dieser Reform gearbeitet, denn so eine Neudefinition ist heikel, wie Jürg Niederhauser erklärt: «Wenn die Definition nicht präzise genug ist, würde man unabsichtlich die Masse eines Kilogramms verändern und einen Sprung in allen Messreihen verursachen. Das wollte man unbedingt verhindern.» Deshalb war die Reform erst möglich, als die Planck-Konstante genau genug bestimmt werden konnte.
Seit 2019 sind also alle Masseinheiten in Abhängigkeit von Naturkonstanten definiert. Trotzdem gibt es Bestrebungen, das internationale Einheitensystem weiter zu verbessern. Das betrifft vor allem die Sekunde, die heute über die Schwingungen von Cäsiumatomen definiert wird. Doch es sind Uhren in der Entwicklung, die noch viel präziser und stabiler ticken als Cäsium-Atomuhren.
Bleibt nur noch die Frage, warum mancherorts immer noch in Meilen, Pfund, und Daumenbreit gemessen wird. Der Metervertrag kann dafür nichts. Den haben die USA schon 1875 unterzeichnet. Offiziell sind auch die amerikanischen Masse in Metern definiert. Die Umsetzung im Alltag ist eben nicht die Kompetenz des Pariser Büros.
nzz.ch