Ein Sturz, ein Ärztefehler und der lange Weg zurück: Rüdiger Holtbrügges Kampf um Gerechtigkeit

Sechs Jahre ist es nun her, Rüdiger Holtbrügge war auf dem Weg zu seiner Arbeit als Straßenbahnfahrer. Doch seinen Dienst tritt er an jenem Tag nicht mehr an: Er stürzt unglücklich von der Bordsteinkante, fällt ins Gleisbett und bricht sich die Knochen. Dass er sich schwer verletzt hatte, spürte und sah er sofort: „Mein linkes Bein stand im rechten Winkel vom Körper ab und ich hatte wahnsinnige Schmerzen“, erinnert er sich. Die Diagnose in der Notaufnahme: ein Oberschenkelhalsbruch. Weil der Unfall auf dem Weg zur Arbeit passiert ist, schickt man ihn weiter in eine Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik.
Dort herrscht ein ziemliches Durcheinander, erinnert sich Holtbrügge. Die Anästhesistin, die ihn mit Schmerzmitteln versorgt, muss die Behandlung zweimal wegen anderer Notfälle unterbrechen. Holtbrügge wird stationär aufgenommen, aber nicht weiter behandelt, und auch noch am nächsten Tag immer wieder vertröstet. Er droht damit, die Klinik zu verlassen: „Was natürlich Unsinn war, dazu wäre ich nicht in der Lage gewesen“ sagt er. Erst 33 Stunden nach seiner Einlieferung liegt er schließlich auf dem Operationstisch. „Eigentlich muss man nach einem solchen Bruch innerhalb von 24 Stunden operiert werden, sonst ist der Knochen nicht mehr mit Blut versorgt, und die Heilungschancen verschlechtern sich“, sagt Holtbrügge.
Geheilt ist er nach dem Eingriff nicht. „Als ich nach zwei Tagen das erste Mal versucht habe, aufzustehen, bin ich fast umgekippt”, erzählt er. Und auch drei Wochen nach der Operation sitzt er immer noch im Rollstuhl. Erst dann wird er geröntgt. Die Bilder zeigen: Die Schrauben, Platten und Drähte, mit denen die Operierenden seinen Bruch beheben wollten, haben nicht gehalten: „Es war alles auseinander geflogen“.
Rüdiger Holtbrügge muss in der Klinik bleiben, er verbringt dort seinen 60. Geburtstag. Seine Familie überrascht ihn mit einer kleinen Feier im Aufenthaltsraum, mit Kuchen und Deko. „Aber den Tag hatte ich mir natürlich eigentlich anders vorgestellt“, sagt er.
Ein neuer Operationstermin wird angesetzt, Holtbrügge bekommt nun eine künstliche Hüfte eingesetzt. Nach insgesamt 13 Wochen in der Klinik wird er schließlich entlassen. Nur: Er bleibt weiter an den Rollstuhl gefesselt. „Bei der Abschlussbesprechung sagte man mir, mein Fall sei abgeschlossen, man könne nichts weiter für mich tun. Aber ich kann nicht laufen, habe ich gesagt.“ Fast ein Jahr war sein Unfall da bereits her.

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Er bekommt 70 weitere Rehaanwendungen verschrieben, die aber nicht wirklich helfen. „In dieser Zeit wurden die Wolken im Kopf immer dunkler. Ich dachte, mein Leben fliegt aus der Bahn“, erinnert er sich. Er hatte Angst, für immer im Rollstuhl bleiben zu müssen. „Was wäre mit meiner Frau, würde sie dann zu mir halten? Solche Gedanken kommen einem dann“, sagt er. Er habe damals psychologische Hilfe in Anspruch genommen, das habe ihm sehr geholfen.
Zu seinem Glück vermittelt ihn seine Berufsgenossenschaft schließlich an einen Spezialisten. Der hat sofort einen Verdacht: „Er sagte mir, an der Stelle, wo mein Bruch war, sei bei einer Operation äußerste Vorsicht geboten, weil dort Nervenstränge aus der Wirbelsäule austreten, die verletzt werden könnten.“ 14 Tage später bestätigt die neurologische Untersuchung: Ein Nerv an Holtbrügges Bein ist abgerissen, ein weiterer stark beschädigt.
„Dadurch wurde der Impuls zu laufen gehemmt”, erklärt er. „Und leider lassen sich Nerven nicht wieder reparieren.“ Nach sechs Wochen spezieller, täglicher Reha können Holtbrügges Muskeln aber so weit gestärkt werden, dass er endlich wieder gehen kann – zumindest mithilfe eines Stocks. Bei der Krankengymnastik lernt er damals einen anderen Patienten kennen, der selbst Orthopäde ist. Er empfiehlt ihm, zu klagen. Auch sein Umfeld rät ihm dazu, eine Entschädigung einzufordern. „Ich wollte es erst nicht, aber es stimmt ja, mein Leben wurde durch all das teilweise zerstört“, sagt Holtbrügge.

Rüdiger Holtbrügge saß wegen eines ärztlichen Behandlungsfehlers monatelang im Rollstuhl.
Quelle: privat
Heiko Partenheimer ist Anwalt für Medizinrecht in der Kanzlei Gellner & Collegen. Er hat Holtbrügge vor Gericht vertreten. In der Verhandlung ging es vor allem um einen Punkt: um Fehler, die während der ersten Operation gemacht wurden. „Aus dem Protokoll ging hervor, dass eine Ärztin bereits warnte, dass eine Schraube nicht halten würde. Ein anderer Arzt sagte ihr, sie solle sie weiter reindrehen. Schließlich gelang es dann nicht mehr, sie zu entfernen. Es werde schon halten, sagte der Arzt“, erinnert sich Holtbrügge.
„Ich glaube es waren sechs bis sieben Ärzte, die sich da versucht haben“, sagt Partenheimer. Darunter auch solche, die offenbar noch lernten, wie ein solcher Eingriff funktioniert. Wie üblich musste ein Sachverständiger den Fall beurteilen. „Der entscheidende, vom Gutachter gefundene Fehler war dann noch ein ganz anderer“, sagt Partenheimer. Es sei bei der Operation keine Antirotationsschraube verwendet worden, obwohl das eigentlich angezeigt war.
Nicht verhandelt wird vor Gericht, ob die erste Operation womöglich ganz vermeidbar war. „Wegen meines Übergewichts und weil der Bruch sehr kompliziert war, bestand wohl ein erhöhtes Risiko, dass der Eingriff nicht gelingt“, sagt Holtbrügge. So hat es ihm der Arzt erklärt, der schließlich den Nervenschaden feststellte. Die bessere Alternative wäre es in diesem Fall gewesen, direkt ein künstliches Hüftgelenk einzusetzen, so dessen Urteil. Holtbrügge wurde er aber gar nicht erst über diese Möglichkeit informiert.
Laut Partenheimer wäre dies eher ein Aufklärungsfehler als ein Behandlungsfehler gewesen, was weniger schwer wiegt. Zudem hält er die Sachlage hier nicht für eindeutig. Die Entscheidung für den Gelenkerhalt sei wohl nicht unbedingt falsch gewesen. „Aber wenn, dann muss es richtig gemacht werden!“ Auch ob die Nerven bei der Operation verletzt wurden, ist vor Gericht kein Streitpunkt - es wäre zu schwer zu beweisen gewesen. Denn theoretisch, so Holtbrügge, hätten sie auch bereits beim Sturz verletzt werden können. Es wurde auch nicht darüber verhandelt, ob die Operation zu spät stattfand.
Laut Techniker Krankenkasse kommt es in deutschen Kliniken pro Jahr geschätzt zu 400.000 bis 800.000 vermeidbaren Fehlern. Jeder 20. Todesfall in einer Klinik ist demnach auf einen Behandlungsfehler zurückzuführen. Aber längst nicht alle Betroffenen werden entschädigt – weil die Patientinnen und Patienten die Fehler gar nicht erst erkennen. Oder weil es so schwer ist, sie nachzuweisen.
Ein Problem hierbei, laut Anwalt Partenheimer: Viele der medizinischen Sachverständigen, die die Gutachten erstellen, würden Kollegen „nicht reinreiten wollen” und seien beim Feststellen von Behandlungsfehlern zurückhaltend. „Am besten nachweisbar sind deshalb immer noch handfeste Operationsfehler.“ Denn während eines Eingriffs wird stets Protokoll geführt, wobei das mal mehr, mal weniger sorgfältig geschehe. In Holtbrügges Fall habe man Glück gehabt, dass das Vorgehen der Operierenden so gut dokumentiert worden war.
Wie viele Behandlungsfehler sich pro Jahr in Deutschland ereignen, lässt sich nur schätzen. Laut Bundesministerium für Gesundheit gibt es keine Bundesstatistik zu ärztlichen Behandlungsfehlern. Erfasst werden nur die Fälle, in denen Patienten und Patientinnen beim Medizinischen Dienst der Krankenkassen ein Behandlungsfehlergutachten beantragen, das war 2023 laut Jahresstatistik genau 12.438 mal der Fall. In 21,5 Prozent dieser Fälle wurde ein Behandlungsfehler klar nachgewiesen. „Wissenschaftliche Untersuchungen legen allerdings nahe, dass die Anzahl der tatsächlich stattfindenden Fehler bei medizinischer Behandlung die Anzahl der daraus folgenden Vorwürfe um ein Vielfaches übersteigt“, heißt es in der Veröffentlichung. Diese Fälle bilden also nur die Spitze des Eisbergs ab. Das Wissenschaftliche Institut der AOK (Wido) hat im “Krankenhaus-Report 2014” eine Hochrechnung dazu veröffentlicht. Sie geht bei rund 19 Millionen Krankenhausbehandlungen pro Jahr von rund 190.000 Behandlungsfehlern jährlich aus, die in einem von tausend Fällen tödliche Folgen haben. Die Techniker Krankenkasse beruft sich auf Schätzungen von Experten, wonach es in deutschen Kliniken zu 400.000 bis 800.000 vermeidbaren Fehlern kommt. Geschätzt sei jeder 20. Todesfall in einer Klinik demnach auf einen Behandlungsfehler zurückzuführen.
Eine weitere Hürde: Ärzte und Ärztinnen sind über ihre Klinik gegen Schadensersatzforderungen bei Fehlern versichert. Wenn sie Behandlungsfehler zu schnell einräumen, drohen Probleme mit der Haftpflichtversicherung. „Aus versicherungsrechtlichen Gründen halten sich die Ärzte bedeckt“, so Partenheimer. Bei Prozessen zu Ärztefehlern ist er es jedenfalls gewohnt, dass sich die Gegenseite „mit Händen und Füßen wehrt“.
Auch in Holtbrügges Fall wollte die Vertretung der Klinik zunächst keine Fehler einräumen. Stattdessen sei von „einer schicksalhaften Komplikation“ auszugehen. Erst bei einer zweiten Verhandlung ließ sie sich auf eine Schlichtung ein und stimmte einer Zahlung von 15.000 Euro an Holtbrügge zu. Sein Anwalt hatte ursprünglich 70.000 Euro gefordert.
Holtbrügge hat eine Rechtsschutzversicherung. Andernfalls müssen Betroffene bei einer Einigung einen Anteil der Anwaltskosten selbst tragen. In einigen Fällen bleibt dann von der Entschädigung kaum etwas übrig. Patienten und Patientinnen, die einen Ärztefehler vermuten, scheuen daher oft auch aus Angst vor den Kosten einen Prozess. Ganz ohne Anwaltskosten sei es aber immer auch möglich, sich an die Schlichtungsstelle der Ärztekammer zu wenden, die mögliche Behandlungsfehler prüft, so Partenheimer. Anschließend kann man die Erfolgsaussichten einer Klage besser einschätzen.
Partenheimers Tipp für geschädigte Patientinnen und Patienten: Sie sollten nicht gleich unterschreiben, wenn ihnen außergerichtlich Geld für den Verzicht auf weitere Ansprüche versprochen wird. Am besten sollte man solche Angebote von einem Anwalt oder einer Anwältin begutachten lassen. Seinem Klienten Holtbrügge hat Partenheimer damals erklärt, die 15.000 Euro Entschädigungszahlung könnten etwas zu wenig sein. „Es gilt aber immer abzuwägen: Wie wäre es gewesen, wenn die Operation fehlerfrei verlaufen wäre? Wäre er dann heute gesundheitlich zu 100 Prozent wieder hergestellt?“
In Holtbrügges Fall stellte sich auch die Frage, wie es sonst weitergegangen wäre. Ohne Einigung wäre ihm wohl ein Schmerzensgeld zugesprochen worden, das aber geringer ausgefallen wäre, sagt Partenheimer. Dazu wahrscheinlich ein Verdienstausfall, als Straßenbahnfahrer kann Holtbrügge wohl nie wieder arbeiten. „Die Gegenseite hätte aber in Berufung gehen können, wodurch sich das Verfahren noch lange hingezogen hätte.“ Es sei keinesfalls sicher gewesen, dass Holtbrügge mehr Geld hätte erstreiten können. Die Gerichte seien beim Schmerzensgeld oft sehr zurückhaltend.
Holtbrügge war mit der Summe einverstanden. Er und seine Frau haben sich davon ein neues Auto gekauft, einen Gebrauchtwagen. „Für uns reicht das“, sagt er. Er sei zufrieden und wolle nur seine Ruhe haben, nach der aufwendigen Behandlung und dem anstrengenden Prozess. Immerhin war der Ärztefehler vor Gericht anerkannt worden. „Ich habe deshalb keine Häme empfunden, sagt er. „Sondern nur Erleichterung, dass es nun endlich vorbei war.“
rnd