Flohkrebs Alicella gigantea: Das Tiefsee-Monster ist nicht so selten, wie wir dachten
Sie wirken geisterhaft, fast wie außerirdische Wesen: riesige Krebstiere mit kommaförmigem Körper, weißlich-transparent und bis zu 34 Zentimeter lang – ungefähr so groß wie ein kleiner Chihuahua oder ein Laib Brot. Die Rede ist von Alicella gigantea, dem größten bekannten Flohkrebs der Welt. Lange Zeit hielten Forschende diese „Supergiganten“ für extreme Tiefsee-Raritäten. Doch eine neue australische Studie zeigt nun: Die Tiere kommen viel häufiger vor, als bisher gedacht – und könnten still und leise mehr als die Hälfte der Weltmeere bevölkern.
Ein Forschungsteam um die Meeresmolekularbiologin Paige Maroni von der University of Western Australia (UWA) hat die bisher umfassendste Analyse dieser Art vorgelegt. Die Studie, die im Mai in der Fachzeitschrift „Royal Society Open Science“ veröffentlicht wurde, wertete 195 Nachweise von Alicella gigantea aus 75 Standorten weltweit aus, darunter der Pazifik, Atlantik und Indische Ozean. Erstmals konnte so die globale Verbreitung dieser faszinierenden Tiere abgeschätzt werden.
Bislang sei Alicella gigantea im Vergleich zu anderen Tiefsee-Flohkrebsen nur selten gesammelt oder beobachtet worden, „was auf eine geringe Populationsdichte schließen ließ“, wie Maroni erklärte. Doch: Obwohl man sie nur in geringen Zahlen antraf, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass sie selten sind – die Tiefsee ist schlicht schwer zugänglich, und viele ihrer Bewohner entziehen sich bis heute der Beobachtung. Weil sie so selten gefunden wurden, sei bisher wenig über ihre Demografie, genetische Variation und Populationsdynamik bekannt gewesen, berichtete die Forscherin. Es habe lediglich sieben veröffentlichte Studien zu DNA-Sequenzdaten gegeben.

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Flohkrebse (Amphipoda) gehören zu den vielfältigsten Gruppen der Krebstiere, mit über 10.000 bekannten Arten. Sie kommen in praktisch allen Gewässern der Erde vor, von Süßwasserflüssen bis zu den tiefsten Meeresgräben. Während manche Arten winzig sind, fällt Alicella gigantea mit seiner enormen Größe auf – so groß, dass es fast befremdlich wirkt: Man stelle sich eine überdimensionale Garnele so groß wie ein kleiner Welpe vor! Trotz ihrer optischen Ähnlichkeit sind die Tiere biologisch aber übrigens nicht mit Shrimps verwandt. Wegen ihrer enormen Größe werden die Tiere auf Deutsch auch manchmal als „riesige Tiefseeflohkrebse“ oder „riesige Amphipoden“ bezeichnet.
Die australische Studie untersuchte Tiefen zwischen 3890 und 8931 Metern, also Regionen, die als Abyssalzone (3000 bis 6000 Meter) und Hadalzone (6000 bis 11.000 Meter) bezeichnet werden. Dort herrschen extreme Bedingungen: absolute Dunkelheit, Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt und ein Wasserdruck, der mehr als tausend mal höher ist als an der Meeresoberfläche. Lebewesen, die hier überleben, haben erstaunliche Anpassungen entwickelt.
Der riesige Flohkrebs Alicella gigantea wird bis zu 34 Zentimeter lang.
Quelle: The University of Western Australia
Für die genetische Analyse nutzte das Team zwei mitochondriale und ein nukleares Gen, um die Verwandtschaftsverhältnisse zwischen den Tieren aus verschiedenen Weltmeeren zu überprüfen. Das Ergebnis: klare genetische Zusammenhänge zwischen Exemplaren aus weit auseinanderliegenden Regionen. Maroni erklärte: „Da die Tiefsee-Exploration inzwischen auch in Tiefen vordringt, die über konventionelle Probennahmen hinausgehen, wächst die Zahl der Belege, dass der größte Tiefsee-Krebstier der Welt alles andere als selten ist.“
Etwa 59 Prozent der Weltmeere, schätzen die Forschenden, könnten von Alicella gigantea bewohnt werden. Dabei wurde der Pazifik als größtes potenzielles Verbreitungsgebiet identifiziert, mit rund 104,6 Millionen Quadratkilometern, gefolgt vom Atlantik mit rund 47,7 Millionen Quadratkilometern. Das Mittelmeer hingegen bietet nur etwa 0,03 Millionen Quadratkilometer geeigneten Lebensraum.
Erstmals gefilmt wurde der Riesenflohkrebs in den 1970er-Jahren, in einer Tiefe von 5304 Metern im Nordpazifik. Doch bis heute wurden nur wenige Individuen geborgen, oft mit Hilfe autonomer Landersysteme, die mit Köderfallen (etwa ganzen Makrelen) ausgestattet sind. Diese geringen Fundzahlen hatten den Eindruck erweckt, dass die Tiere selten seien – ein klassischer Fall von „selten beobachtet heißt nicht gleich selten vorhanden“.
Maroni betonte, dass die Fortschritte in der Next-Generation-Sequenzierung (NGS), die eine schnelle und effiziente Analyse von DNA-Sequenzen ermöglicht, sowie der wachsende technische Zugang zu den extremen Tiefen der Ozeane in den kommenden Jahren ganz neue Einblicke ermöglichen könnten. „Diese Entwicklungen werden helfen, neue Einblicke in die Biodiversität der Hadalzone, Anpassungen an hohen Druck und die evolutionäre Geschichte des Lebens in diesen Tiefen zu gewinnen.“
Die Studienautorinnen und -autoren weisen allerdings darauf hin, dass der Großteil der untersuchten Fundorte (67 von 75) aus dem Pazifik stammt, was die Ergebnisse verzerren könnte. Dennoch lautet das Fazit eindeutig: „Dieses Ergebnis bestätigt, dass der Supergiganten-Flohkrebs alles andere als ‚selten‘ ist, sondern vielmehr eine einzelne, global verbreitete Art mit einem außergewöhnlich weiten Verbreitungsgebiet in der Tiefsee darstellt.“
rnd