INTERVIEW - Ein neues Dorf, aber keine neue Heimat: «Das soziale Gefüge ist durch die Umsiedlung auseinandergebrochen»


Peter Klaunzer / Keystone
Das Schweizer Dorf Blatten liegt nach einem enormen Bergsturz begraben unter Gestein. Es ist unbewohnbar geworden. Die Menschen dort haben alles verloren. Wie soll es für sie weitergehen? Diskutiert wird über eine Neuerrichtung von Blatten, womöglich an anderer Stelle.
NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.
Bitte passen Sie die Einstellungen an.
Dass ganze Dörfer an anderen Orten neu aufgebaut werden, kommt tatsächlich immer wieder vor. Zum Beispiel in Deutschland. Dort wurden seit Ende des Zweiten Weltkriegs mehrere hundert Dörfer umgesiedelt – weil sie dem Braunkohletagebau weichen mussten. In vielen Fällen wurden sie nur wenige Kilometer vom Ursprungsort entfernt neu errichtet. Die Veränderungen wogen trotzdem schwer. Ein Blick dorthin kann Hinweise darauf geben, was sich auch für die Bewohner Blattens ändern könnte, wenn sie ihr Dorf anderswo aufbauen.
Andrea Kaifie-Pechmann, Professorin am Institut und an der Poliklinik für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin der Universität Erlangen-Nürnberg, hat in einer Studie untersucht, wie es den Betroffenen in Deutschland mit der Umsiedlung geht. Die Untersuchung entstand, als Kaifie-Pechmann an der Universität Aachen tätig war – eine Stadt ganz in der Nähe des Braunkohletagebaus.
Frau Kaifie-Pechmann, Sie wollten mit Ihrer Studie erste Hinweise auf den Gemütszustand von Personen in Deutschland bekommen, deren Heimat sich stark verändert, die umsiedeln mussten oder das noch vor sich haben. Wie geht es den Menschen?
Wir wissen nicht, wie es allen Betroffenen geht, weil die Teilnahme an der Befragung freiwillig war. Aber wir haben Zusammenhänge gesehen zwischen der Umsiedlung beziehungsweise der reinen Veränderung der Umgebung und psychischen Problemen. Damit gemeint sind hier depressive Stimmungen, Ängste und psychosomatische Beschwerden wie Rücken- oder Kopfschmerzen. Am stärksten belastet fühlten sich diejenigen, deren Umsiedlung noch bevorstand. Personen, die bereits umgesiedelt waren, gaben weniger psychische Probleme an – allerdings waren ihre Werte verglichen mit jenen der Gesamtbevölkerung Deutschlands ebenfalls erhöht.
Was hat die Menschen, die ihr Zuhause verlassen mussten, besonders stark belastet?
Einige Menschen haben zum Beispiel Vieh gehalten, und es hat sie vor der Umsiedlung stark belastet, dass sie nicht wussten, ob sie es am neuen Ort ebenso gut halten können. Ausserdem ist das soziale Gefüge, in dem sie zuvor gelebt hatten, durch die Umsiedlung mehr oder weniger auseinandergebrochen.
Wie kann das sein, wenn doch ein ganzes Dorf umzieht?
Es ist ja nicht ein ganzes Dorf geschlossen an den neuen Ort gegangen. Nicht alle sind mitgekommen. Manche sind ganz woanders hingezogen. Teilweise sind Menschen, die gar nicht im ursprünglichen Dorf lebten, in den neuen Ort gezogen. Und natürlich blieben die Nachbarn nicht unbedingt beieinander. Es verändert sich viel bei einer Umsiedlung. Dadurch entstehen ganz neue soziale Strukturen.
Ihre Studie ergab auch, dass sich Menschen, die teilweise schon vor Jahren umgesiedelt sind, mit ihrem neuen Wohnort weniger verbunden fühlen als Menschen, die ihre Herkunftsdörfer noch nicht verlassen mussten.
In alten Ortschaften leben die Menschen eben in dörflichen Strukturen, die über eine lange Zeit gewachsen sind. Womöglich kannten sich ihre Grosseltern schon aus der Nachbarschaft, man ist zusammen zur Schule gegangen, es gibt den traditionsreichen Schützenverein und andere Sporteinrichtungen, wo sich die Leute treffen und kennen. Die neuen Ortschaften hingegen sind quasi von jetzt auf gleich da, die Menschen werden in Häuser und Gegenden und neben Nachbarn gesetzt, zu denen sie keine natürlich gewachsenen Beziehungen haben.
Sie erwähnen in der Studie den Begriff Solastalgie. Das Wort ist in Australien entstanden, wo die Menschen eine extreme Veränderung der Umwelt durch den Tagebau erlebten. In der Bedeutung unterscheidet sich die Solastalgie von der Nostalgie. Letztere bezieht sich auf weit entfernte zeitliche oder räumliche Dimensionen. Bei der Solastalgie geht es um den Schmerz aufgrund konkreter Veränderungen im Hier und Jetzt.
Damit sind Verlustgefühle gemeint, die mit Umweltveränderungen in der Heimat einhergehen. Und die eine Art Heimweh verursachen, nämlich nach der Umgebung, wie sie vorher war. Damit ist nicht nur gemeint, dass ein neu aufgebautes Dorf etwas anders aussieht. Beim Braunkohletagebau passiert es zum Beispiel, dass sich ein grosses Loch in der Landschaft immer näher an die Ortschaft frisst. Anderswo kann es sein, dass ein riesiger Wald verschwindet. Oder dass sich, wie in Blatten, die Heimat aufgrund eines Bergsturzes enorm verändert und unbewohnbar wird. Solastalgie hat aber keinen Krankheitswert, sondern ist eher eine Beschreibung eines Zustands.
Gibt es Gefühle, die typischerweise mit Solastalgie einhergehen?
Das Gefühl der Machtlosigkeit wurde oft beschrieben. Die Personen wollten ja nicht umsiedeln. Sie waren gezwungen zu akzeptieren, dass sie gehen mussten. Und damit einhergehend war auch Trauer vorhanden.
Besonders stark psychisch belastet waren in Ihrer Studie Menschen, deren Umsiedlung noch bevorstand. Einige von ihnen lebten in Häusern, die ihre Familien seit Generationen bewohnten.
Der Verlust des Hauses wog für einige wirklich schwer. Wir haben lange Briefe bekommen, in denen Menschen beschrieben haben, dass sie noch im Haus ihrer Grosseltern leben, die eigenen Eltern seien dort gross geworden, sie selbst seien dort aufgewachsen. Nicht nur der Verlust der Umgebung schmerzte sie, sondern wirklich der Verlust des Hauses und damit eines Teils ihrer Familiengeschichte und ihrer Identität. Das waren herzzerreissende Briefe. Die Personen haben geschrieben, sie müssten jetzt all das verlassen, woanders hingehen – und es gehe ihnen sehr schlecht damit.
Andererseits wiesen die Befragten in Ihrer Studie, die bereits umgesiedelt waren, die geringste psychische Belastung auf. Sie fühlten sich zwar mit ihrem neuen Wohnort nicht besonders verbunden und fühlten auch weniger Verantwortungsbewusstsein für ihre Mitmenschen, aber es ging ihnen psychisch besser als den Personen in noch nicht umgesiedelten Orten.
Es ist natürlich die Frage, was passiert, wenn man die stark belasteten Personen umsiedelt. Wäre jeder von ihnen in der Lage, die neue Situation anzunehmen? Das ist individuell sehr unterschiedlich. Wir wissen es im Einzelfall nicht. Denn wir haben die Menschen nur einmal befragt und nicht über einen längeren Zeitraum begleitet.
Gab es auch positive Bemerkungen zum Thema Umsiedlung?
Es gab tatsächlich Personen, die sich auf den Neuanfang gefreut haben. Und auch darüber, in einen Ort mit modernen Einrichtungen zu kommen. Dort ist ja alles gepflegt und frisch gemacht. Eine Umsiedlung wird also wirklich nicht nur negativ betrachtet.
nzz.ch