Experte besorgt über Mangel an wichtigen Medikamenten


Derzeit sind in der Schweiz rund 700 Medikamente mangelhaft, darunter lebenswichtige Antibiotika und Schmerzmittel.
Während die Schweiz aufgrund der von Donald Trump verhängten 250-prozentigen Zölle auf Schweizer Medikamente ihre führenden Pharmaunternehmen verlieren könnte, droht ihr eine weitere Gefahr: ein Mangel an lebenswichtigen Medikamenten, warnt ein Pharmaexperte. Nam Trung Nguyen, Direktor für Pharma & Medtech bei der Unternehmensberatung Atreus in München (D), ist der Ansicht, dass die Abhängigkeit von China und Indien langfristig ein viel ernsteres Problem darstellt.
Zwar haben Roche und Novartis bereits angekündigt, Milliarden in ihre Pharmaproduktion in den USA zu investieren. Novartis will sogar 100 Prozent seiner wichtigsten Medikamente im Land des US-Präsidenten herstellen. Für die Schweiz wäre das aber keine schlechte Sache, so der Experte.
Er weist darauf hin, dass die Herstellung eines Medikaments nur 10 Prozent seines Preises ausmacht. Der grösste Teil davon entfällt für ein Pharmaunternehmen auf die Forschung. Die Entwicklung neuer Medikamente bliebe jedoch in der Schweiz. Noch wichtiger aber seien die Wirkstoffe, die für deren Herstellung benötigt würden. Diese würden vor allem in Indien oder China produziert. «Schätzungen zufolge stammen 45 Prozent der weltweiten Antibiotikaproduktion aus China – oder sogar 80 bis 90 Prozent», so der Experte.
Diese Abhängigkeit macht die Welt verwundbar. Denn der kleinste Fabrikunfall in Asien kann hierzulande zu gravierenden Engpässen führen. Und Peking könnte geopolitische Spannungen ausnutzen, um sein Recht zu diktieren. „China könnte diese Abhängigkeit nutzen, um Druck auszuüben“, fürchtet Nam Trung Nguyen. Das habe das Land bereits getan, indem es im Handelskrieg mit Washington die Lieferungen Seltener Erden an die USA stoppte. Und Peking könne durchaus dasselbe mit auf chinesischem Boden produzierten Wirkstoffen tun, sagt er.
Da Trump möchte, dass Novartis und Roche in den USA produzieren, und beide Pharmaunternehmen ihre Abhängigkeit von China verringern wollen, könnte die Ansiedlung von Produktionsstätten in den USA langfristig sowohl für Washington als auch für uns von Vorteil sein.
Der Experte ist zudem überzeugt, dass die Schweiz diese Chance zur Diversifizierung nutzen könnte. Er schlägt vor, in attraktiven und politisch stabilen Ländern wie dem Balkan Wirkstoffproduktionsstätten aufzubauen. Diese Projekte würden zwar zehn bis zwanzig Jahre dauern, warnt er. Doch: „Letztendlich geht es um die Versorgung unserer Bevölkerung mit Medikamenten und damit um die Gesundheit aller.“
Zölle auf die Pharmabranche, die in der Schweiz 50'000 Menschen beschäftigt, davon 10'000 in der Produktion, dürften gravierende Folgen haben, auch wenn Novartis und Roche versichern, dass ihre künftigen Aktivitäten in den USA kaum Auswirkungen auf uns haben werden. Gesundheitsökonom Heinz Locher widerspricht dem: «Ein Teil der Pharmaindustrie wird auch in EU-nahe Länder abwandern», warnt er. Er will aber beruhigen: «Die Schweiz bleibt dank ihrer politischen Stabilität und der guten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen attraktiv», hofft er. Nationalrat Olivier Feller (PLR/VD) ist vorsichtiger: «Sollten Verlagerungen in die USA stattfinden, verlieren wir nicht nur Arbeitsplätze, sondern auch Know-how und natürlich hohe Löhne, was zu Steuerausfällen führt», erklärt er. Er plädiert für eine liberale und pragmatische Industriestrategie zum Erhalt der Arbeitsplätze. So könne man etwa erwägen, die OECD-Mindeststeuer wieder abzuschaffen oder andere Steuervergünstigungen für die Branche auszuhandeln. „Ich habe keine Patentlösung. Aber nichts zu tun und es dem freien Markt zu überlassen, erscheint mir zu simpel“, sagt der Waadtländer.
20 Minutes