Russlands Preisparadoxe: Monatlich steigende Inflation, jährlich fallende

Die offiziellen Inflationsstatistiken sind ebenso widersprüchlich wie die Meinungen darüber. Die Behörden gehen davon aus, dass die Inflation ihren Höhepunkt bereits überschritten hat und weiter sinken wird, während die Inflationserwartungen der Bevölkerung, wie Umfragen belegen, im Gegenteil steigen. Die neuesten Statistiken liefern sowohl Optimisten als auch Pessimisten Argumente.
Tatsächlich ist die monatliche Inflation in Russland nach einem Rückgang in den Vormonaten wieder gestiegen: Im Mai lag sie bei 0,43 Prozent, nach 0,40 Prozent im April. Im Gegensatz dazu verlangsamt sich die jährliche Inflation: Ende Mai lag sie bei 9,88 Prozent, nach 10,23 Prozent im Vormonat.
Der Anstieg der monatlichen Inflation im Mai überraschte Analysten – ihre Konsensprognose lag bei 0,28 %. Tatsächlich lag sie jedoch bei 0,43 %. Vor dem Hintergrund des hohen Niveaus des Vorjahres (im Mai 2024 lag die Inflation bei 0,74 %) verlangsamte sich die jährliche Inflation laut Rosstat jedoch auf 9,88 %. Zuvor war die Inflation zuletzt im Februar 2025 einstellig (d. h. unter 10 %): Damals lag sie bei 9,92 %.
Den deutlichsten Preisanstieg verzeichnete – einer Tradition folgend, die man kaum als „gut“ bezeichnen kann – das Gemüse „Borschtsch-Set“, dessen Preis im Vergleich zum April zweistellig gestiegen ist. Spitzenreiter beim Preisanstieg war Rote Bete – sie legte um 19,3 % zu. Die Preise für Karotten stiegen um 18,1 %, für Zwiebeln um 14,2 %, für Kohl um 12 % und für Kartoffeln um 7,8 %.
Obst und Beeren liegen nicht weit dahinter: Zitronen sind innerhalb eines Monats um 4,7 Prozent im Preis gestiegen, Äpfel um 4,4 Prozent und Weintrauben um 3,3 Prozent.
Doch es gibt auch Grund zur Freude: So sanken die Preise für Gurken um 31,3 Prozent, für Tomaten um 21,1 Prozent, für Bananen um 5,3 Prozent, für Paprika um 4,3 Prozent und für Knoblauch um 3,1 Prozent.
Insgesamt sind die Preise für Obst- und Gemüseprodukte seit Jahresbeginn um 4,7 Prozent gestiegen, im Jahresverlauf sogar um 19,8 Prozent.
Im Mai sanken die Preise für Hühnereier jedoch um 6 %. Die Preise für Hühnerfleisch stiegen um 4 %. Alle Lebensmittel verteuerten sich durchschnittlich um 0,26 %. Im Jahresvergleich stiegen sie um 12,5 %. Alkoholische Getränke verteuerten sich im Mai um 0,8 %, seit Jahresbeginn um 8,1 % und im Jahresvergleich um 13,2 %.
Im vergangenen Monat sanken die Preise für Non-Food-Produkte aufgrund des stärkeren Rubels um 0,13 Prozent, im Jahresvergleich stiegen sie jedoch um 4,81 Prozent. Kameras verbilligten sich insbesondere im letzten Frühlingsmonat um 3,2 Prozent und Fernseher um 2,7 Prozent. Die Preise für Medikamente stiegen jedoch um 0,74 Prozent.
Dienstleistungen verteuerten sich im Mai durchschnittlich um 1,34 % (im Vergleich zum Vorjahr um 12,55 %). Besonders deutlich stiegen die Kosten für Urlaubsreisen an die Schwarze Meerküste der Russischen Föderation – um 21,4 %. Am teuersten unter den ausländischen Tourismusdienstleistungen waren … … ...� Die Preise und Fahrpreise für Fernzüge sind deutlich gestiegen, und zwar um 3,9 % auf 7,8 %.
Die zentrale Frage ist nun: Wie wird sich die Inflation weiter entwickeln? Werden die Preise sinken oder noch stärker steigen? Die Währungsbehörden bestehen natürlich auf der ersten Option. Auf einer Pressekonferenz am 6. Juni, nach der Entscheidung zur Leitzinssenkung, erklärte Elvira Nabiullina, die Präsidentin der Russischen Zentralbank, dass die Inflationsdynamik derzeit näher an der Untergrenze der Zentralbankprognose von 7-8 % für 2025 liege und die Zentralbank ihre Prognose im Juli möglicherweise weiter senken werde.
Das Wirtschaftsministerium hat seine Prognose für 2025 auf 7,6 Prozent angepasst. Damit erwartet die Behörde auch einen weiteren Rückgang der jährlichen Inflation. Unabhängige Experten teilen diese Zuversicht jedoch nicht.
Igor Nikolajew, leitender Forscher am Institut für Wirtschaftswissenschaften der Russischen Akademie der Wissenschaften, bestreitet nicht, dass die Inflation in den letzten Monaten auf Jahresbasis zu sinken begonnen hat. „Aber die Leute achten vor allem darauf, was am schnellsten im Preis steigt“, betont er. Das sind Lebensmittel, deren Preise im Durchschnitt um 12,5 % gestiegen sind, und insbesondere Obst und Gemüse, deren Preise nicht nur leicht, sondern um mehrere zehn Prozent gestiegen sind. Es ist schlichtweg unmöglich, einen solchen Preisanstieg nicht zu bemerken, ebenso wenig wie man gleichzeitig an eine sinkende Inflation glauben kann.
„Es ist eindeutig verfrüht zu sagen, dass der Höhepunkt der Inflation hinter uns liegt“, meint der Ökonom. „Schon allein deshalb, weil wir schon bald, ab Anfang Juli, eine Erhöhung der Tarife für Wohnungsbau und kommunale Dienstleistungen um fast 12 % erleben werden. Dies ist ein ernstzunehmender Inflationsfaktor und übersteigt die Werte von 2024, als die Tarife um 9,8 % angehoben wurden, deutlich.“
„Im vergangenen Jahr war es der Juli, der den Anstoß zur Beschleunigung der Inflation gab. Ich denke, dass der Anstieg in diesem Jahr noch deutlicher ausfallen wird. Daher gibt es keinen ausreichenden Grund zu behaupten, dass wir den Inflationshöhepunkt bereits überschritten haben“, so Nikolajew. Seiner Meinung nach wäre es ein gutes Ergebnis, wenn die Inflation bis Ende des laufenden Jahres unter 10 % bliebe.
Auch Mark Goykhman, Analyst der Capital Skills Financial Academy, stimmt zu, dass sich die Inflation in Russland allmählich verlangsamt. Er schließt nicht einmal aus, dass der Höhepunkt der Inflation überschritten ist. „Wir sollten uns jedoch nicht entspannen“, fügt der Experte hinzu. „Es gibt viele mögliche Treiber für zukünftiges Preiswachstum.“ Insbesondere hat die Zentralbank bereits begonnen, den Leitzins zu senken, um einer Konjunkturabschwächung entgegenzuwirken. Diese Senkung wird sie voraussichtlich auch in der zweiten Jahreshälfte fortsetzen. Dies wird einerseits das Wirtschaftswachstum stützen und andererseits die Abschwächung der Inflation begrenzen.
Laut dem Analysten müssen auch externe Faktoren berücksichtigt werden. Globale Zollkriege könnten die Nachfrage nach russischen Exportgütern verringern, den Zufluss von Staatseinnahmen begrenzen und eine Erhöhung der Haushaltsausgaben und der Geldmenge erforderlich machen. Der Rubelkurs dürfte allmählich nachgeben. Zudem bleiben geopolitische Risiken und Sanktionsrisiken bestehen. Jeder dieser Faktoren für sich, insbesondere aber alle zusammen, tragen zu einem weiteren Anstieg der Inflation im Land bei.
mk.ru