Gehirnnebel

Ich schlage die Zeitungen auf und höre den Kommentatoren zu: Angst ist das vorherrschende Gefühl. Ob Politik, Wirtschaft oder Alltag … Egal, um welches Thema es geht, Angst scheint immer im Mittelpunkt zu stehen. Die Politik, weltweit wie auch in der Türkei, befindet sich seit langem in einer Phase der Unsicherheit, die rational schwer zu erfassen ist. Es geschieht etwas, aber niemand kann es vollständig erkennen oder vorhersagen. Ein Grund dafür ist das Ende der technokratischen Politik, die nach dem Zweiten Weltkrieg etabliert wurde. Das Ziel dieser Ära war es, Risiken zu minimieren; deshalb wurden Entwicklungspläne erstellt. Heute spricht technokratische Politik die Massen nicht mehr an. An ihre Stelle ist eine Politik getreten, die auf Charakter, Emotionen, Zugehörigkeitsgefühl und oft falschen Versprechungen basiert. Selbst die alten totalitären Regime stützten sich auf eine Ideologie. Doch für die autoritären Führer von heute ist Ideologie eine Belastung. Stattdessen kontrollieren sie Informationsquellen und verbreiten durch Zensur, Verzerrung, Lügen und Verschwörungstheorien einen „Gehirnnebel“.
DIE MACHT DER ANGSTDas Fehlen eines ideologischen Rahmens ermöglicht den heutigen autoritären Führern größere Handlungsfreiheit. So wurde der alte politische Ansatz, der sich auf Risikomanagement konzentrierte, durch Angstmanagement ersetzt. Während es bei Risiken eher um Vernunft ging, ist die Politik angesichts der Angst stärker von Emotionen getrieben. Populäre Führer, ob rechts oder links, können die Massen beeinflussen, indem sie an Emotionen statt an die Vernunft appellieren. Insbesondere Massenbewegungen und Terrorismus wurden als Vorwand benutzt, was zu flächendeckender Massenüberwachung und der Abschaffung der Menschenrechte und damit der politischen Freiheiten auf der ganzen Welt führte. Friedliche Demonstranten zur Unterstützung Palästinas in Deutschland können problemlos abgeschoben werden. Die ganze Welt kann tatenlos zusehen und die Ereignisse in Gaza verfolgen. Dadurch ist Angst zur bedeutendsten Kraft geworden, die die heutige Gesellschaft, Politik und Wirtschaft prägt.
ÜBERMÄSSIGE ANGSTWarum also ist Angst so funktional? In ihrem Buch „Fear: A Cultural History“ spricht Joanna Bourke von Angst als einer Form der Anästhesie. Wer Zeit, Menschen und Gesellschaft verändern will, muss jede Pore des sozialen und politischen Lebens mit Angst injizieren. Denn je größer die Angst, desto mehr wird das Denken außer Kraft gesetzt; die einfachen Codes des Überlebensinstinkts beginnen zu wirken. Angst lähmt den Einzelnen. Als Managementpraxis, wie sie in einer Gesellschaft der Angst zu beobachten ist, hebt Angst politische Zukunftsvisionen auf. Sie ersetzt beruhigende Zukunftsvisionen durch Panik- oder Weltuntergangsszenarien, die von überwältigender Angst getrieben werden. Dies zeigt sich sogar in den Schlagzeilen von Inhalten in den sozialen Medien: „Die Apokalypse naht, darunter lauert ein neuer Schock.“ Verkehrsunfälle, Morde, knappes Entkommen … Jeder Inhalt scheint darauf programmiert zu sein, das Angstniveau des Einzelnen zu steigern. Wenn Menschen und Massen großen, unbekannten und unvorhersehbaren Gefahren ausgesetzt werden, werden sie empfänglicher für Führung und Kontrolle. Die Unberechenbarkeit von Führern wie Trump oder Putin unterscheidet sich deutlich von der ideologischen Konsequenz früherer autoritärer Führer.
TRAUM DER ZUKUNFTWir sind gefangen in einer Welt voller Möglichkeiten, die die gesellschaftspolitische Landschaft tagtäglich beeinflussen, prägen und prägen. Ständig gibt es Entwicklungen, große wie kleine, die Anlass zur Sorge geben. Doch Angst kann, so wie sie autoritären Regimen als Werkzeug dient, auch zu einer bedrohlichen Kraft werden. In dieser Hinsicht ist Angst als Widerstand eine duale Bewegung. Wenn Angst und Furcht von den Massen angenommen werden, wie in den Besetzungsbewegungen, kann dies den Weg für eine libertäre Politik ebnen.
Statt der Angst, die die Zeit einfriert, gibt es eine Angst, die sie zurückspult. Die Fähigkeit von Individuen und Gesellschaften, neu von der Zukunft zu träumen, ist auch eine Quelle der Zuversicht. Solidaritätsnetzwerke , Frauenbewegungen, junge Menschen, die für das Klima kämpfen … Wie ein Baum, der blüht, wenn er Wasser bekommt, ermöglichen diese Bewegungen, sich die Zukunft vorzustellen. Denn nur Gesellschaften, die von der Zukunft träumen, können den Nebel der Angst vertreiben.
BirGün