„Deutschland gegen die DDR“: Was wir noch nicht über die WM 1974 wissen

Im Rahmen der Veranstaltungsserie „Consider Listening“ der Fahrbereitschaft Lichtenberg fühlt der Künstler Alexander Schmid dem Mythos der deutsch-deutschen Länderspiele auf den Zahn. Das Interview.
Ob Trainingsjacken mit dem 74er-WM-Logo, ob Originalzeitungen, Wimpel, Maskottchen, Schallplatten, DVDs oder Brettspiele – Alexander Schmid umgibt sich gerade mit den Devotionalien der Fußballweltmeisterschaft vor gut 50 Jahren. Mit einem performativen Vortrag im Kunstzentrum Fahrbereitschaft will er alle deutsch-deutschen Fußball-Auswahlspiele aufleben lassen – und zwar nicht nur das 1974er-WM-Duell. Die Berliner Zeitung besuchte ihn.
Ihren Vortrag haben Sie „Freunde gibt es überall“ genannt. Mit diesem Schlager trat Frank Schöbel bei der WM 1974 für die DDR auf. Der Sieg der DDR über die BRD mit dem legendären Tor von Jürgen Sparwasser ist doch längst zigfach betrachtet worden …
Mich reizen Themen, von denen ich denke, dass sie noch nicht ganz auserzählt sind. Ich frage mich dabei immer: Wie erinnern wir uns, wie werden eigentlich Mythen geprägt, welche Funktion erfüllen sie und warum wird anderes vergessen? So will ich mit meinem Vortrag auch an die fünf anderen deutsch-deutschen Länderspiele erinnern, die vor 1974 ausgetragen worden waren.
Sind Sie eigentlich eher Historiker oder Fußballfan?
Ich bin Wirtschaftsingenieur und habe 28 Jahre lang als Management Consultant gearbeitet. Ich habe mich aber immer für Berliner Stadtgeschichte interessiert und leiste mir jetzt den Luxus, tiefer in Themen einzusteigen. Schon 2014 hatte ich die Geschichte des letzten Berliners, der bei einer Flucht über die Grenze starb, recherchiert, die dann erst zu einem Theaterstück, dann zu einem Hörspiel für den RBB führte. Wenige Wochen nach Chris Gueffroy starb Winfried Freudenberg beim Versuch, mit einem selbst gebauten Ballon zu fliehen.
Wie kamen Sie zum Fußball und zur WM 1974?
Ich bin im Schatten des Olympiastadions aufgewachsen, da entkommt man Blau-Weiß nicht so schnell. Mit der Weltmeisterschaft 1974 hatte ich mich zuvor schon auseinandergesetzt, als ich mir das Finale Niederlande–Bundesrepublik noch mal angeschaut habe, das ja oft als glücklicher Sieg beschrieben wird. Ich finde, das stimmt gar nicht. Mit dem niederländischen Schauspieler Willem de Wolf habe ich eine Revue entwickelt und wir haben uns dem Spiel und dem gesellschaftlichen Kontext in beiden Ländern gewidmet. Ein großer Spaß mit viel Musik.
Welche Erinnerungen haben Sie an das Spiel DDR gegen BRD? Wir gehören demselben Jahrgang 1964 an. Ich komme aus der Magdeburger Region, der 1. FC Magdeburg war gerade sensationell Europapokalsieger geworden und stellte viele Spieler der Nationalmannschaft.
Ich muss gestehen, ich habe wirklich gar keine Erinnerungen.
Dafür haben Sie das Spiel heute sicher genauer als Video angesehen …
Ja, immer wieder. In der Fahrbereitschaft will ich zudem zwei Zuschauer als Trainer auf die Bühne holen – die in einer Kabinenansprache erklären, welche Bedeutung das Spiel für sie hat. Beide Teams waren schon für die nächste Runde qualifiziert. Ich sehe es heute als Spiel einer Mannschaft, die eigentlich gar nicht gewinnen will, die BRD, und einer, die dieses Spiel eigentlich gar nicht gewinnen kann. Die DDR verteidigte zwar fleißig, spielte nach vorn aber eher Kick and Rush. Bundestrainer Helmut Schön wechselte nach den Pfiffen des Publikums seinen Regisseur Wolfgang Overath aus gegen den formschwachen Günter Netzer und seinen besten Verteidiger „Katsche“ Schwarzenbeck gegen den 31-jährigen Horst-Dieter Höttges, der schon 1966 dabei war und dann Jürgen Sparwasser nicht hinterherkam. Doch es war ein Pyrrhussieg für die DDR. Sie kam in eine Gruppe mit Brasilien, Holland und Argentinien. In der anderen Gruppe hätten sie in meinen Augen locker das Spiel um Platz drei erreichen können.
Was ist Ihnen bei der Reise ins Jahr 1974 noch aufgefallen?
Mich hat gewundert, dass das deutsch-deutsche Olympia-Duell von 1972 nur zwei Jahre später überhaupt keine Rolle mehr spielte, weder bei den Medien Ost noch West. Dabei gab es personelle Kontinuitäten, Trainer der westdeutschen Olympiamannschaft war Jupp Derwall, 1974 der Assistent von Helmut Schön. ZDF-Kommentator Werner Schneider erwähnt nur, dass Uli Hoeneß viele DDR-Spieler aus den Europapokal-Duellen von Bayern München gegen Dynamo Dresden kennt. Dabei hatte er 1972 bei Olympia schon gegen die komplette DDR-Nationalmannschaft gespielt und sogar ein schönes Tor geschossen.
Es wurde in der ARD-„Sportschau“ sogar „Tor des Monats September 1972“, mit der Einblendung „Deutschland gegen DDR“. Für die DDR waren die Medaillen der DDR-Fußballer bei den Olympischen Spielen sehr wichtig, die Bronzemedaillengewinner von 1964 und 1972 oder die Sieger von 1976 wurden stark gefeiert. Die vier Spiele um die Olympiaqualifikation von 1959 und 1963 zählen Sie auch zu den deutsch-deutschen Auswahlduellen. Welche Bilder und Töne gibt es aus jenen Jahren überhaupt?
Es gibt Standbilder, Zeitungsberichte und Interviews. Die beiden Spiele von 1959, das Hinspiel im Berliner Walter-Ulbricht-Stadion, das Rückspiel im Düsseldorfer Rheinstadion, fanden unter Ausschluss des Publikums statt. Beide Spiele gewann die westdeutsche Auswahl. 1963 setzte sich die DDR-Mannschaft durch, gewann 3:0 vor einem übervollen Stadion in Karl-Marx-Stadt. Kommentator war übrigens schon, wie 1974, Heinz-Florian Oertel, Trainer der BRD-Auswahl war Helmut Schön, der spätere Weltmeistertrainer.

Wen erwarten Sie im Publikum in der Fahrbereitschaft?
Zwei Drittel der Gäste werden wohl allgemein interessiert sein, ich freue mich natürlich über jeden Experten oder Augenzeugen, der mir weiterhilft, und habe die Senioren der Lichtenberger Vereine eingeladen.
Waren oder sind Sie selbst auf dem Fußballrasen aktiv?
Ich habe die Trendsportart Walking Fußball für mich entdeckt und spiele im BSC. Keiner darf rennen, Bälle werden nur hüfthoch gespielt, Körperkontakt ist verboten. Da können Leute mit künstlichen Hüften und Kniegelenken mitspielen – und ich bin der Jüngste.
Freunde gibt es überall. Ein performativer Vortrag von Alexander Schmid: Sonntag, 25. Mai, um 15 Uhr; am Sonntag, den 15.6., setzt er seine Reihe über Mythen mit dem Thema „Luftbrücke“ fort.
Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Consider Listening“, bei der am Sonntag um 17 Uhr die Podiumsdiskussion „Wo ist die Kultur der DDR geblieben?“ angesetzt ist. Mit Ingeborg Ruthe von der Berliner Zeitung sowie Andrea Pichl, Sung Tieu und Gerd Harry Lybke, moderiert von Axel Haubrok. Ort: Kulturraum der Fahrbereitschaft, Herzbergstraße 40–43, Eintritt frei.
Berliner-zeitung