Wie der Antisemitismus in die Linke einwanderte: Jean-Luc Mélenchon hat sich den Judenhass zu einem politischen Vehikel erkoren


Wenn es einen französischen Trump gäbe, sähe man ihn sofort in den Zügen von Jean-Luc Mélenchon, der zugleich ein Erbe von Jean-Marie Le Pen ist: zornig, disruptiv, immer vulkanisch. Sein Gesicht verzerrt sich zu einer wütenden Grimasse, während er die Massen zu Huldigungen antreibt, ohne je die geringste Einschränkung seiner Macht zu dulden. Ihm fehlen nur Trumps unfreiwilliger Humor und dessen übermässiger Appetit auf Geld.
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Das Schicksal dieses sozialistischen Apparatschiks, der Nietzsches These vom Ressentiment verdeutlicht, ist seltsam: Als ehemaliger Trotzkist und Mitglied der sektiererischen Organisation communiste internationaliste verbrachte er dreissig Jahre in der Sozialistischen Partei, ohne dort einen Platz oder einen Rang zu finden, der seinen Ambitionen gerecht geworden wäre. Im Jahr 2000 erhielt er in der Regierung von Lionel Jospin nur einen mageren Posten als Staatssekretär für Berufsbildung, der ihn dazu veranlasste, zunächst die Parti de Gauche und einige Jahre später La France insoumise (LFI) zu gründen.
Mélenchon ist der Typus des abgewiesenen Werbers, zunächst bei François Mitterrand, den er vergötterte, danach bei Lionel Jospin. Beide Politiker schätzten ihn, betrachteten ihn aber als ungeeignet für höhere Aufgaben und unkontrollierbar. Wie konnte dieser talentierte Redner, der eine bolivarische Koalition linksgerichteter Castro-Länder in Lateinamerika – Kuba, Nicaragua und Venezuela – befürwortete, in eine rotbraune Position abrutschen und mit den Thesen der extremen Rechten sympathisieren?
Wandlungen eines ExtremistenDie Antwort ist schwierig, in der Kurzform heisst sie zweifellos Opportunismus. Mit einem unvergleichlichen Gespür hat Mélenchon sehr schnell erkannt, dass das Erneuerungspotenzial der Linken nicht mehr bei den weissen konservativen Volksschichten liegt, sondern bei den Kindern mit arabisch-muslimischem Migrationshintergrund.
Seine Haltung zum Kopftuch ist für diesen Wandel symptomatisch. Bis 2019 lehnte er den Hijab vehement ab und nannte ihn ein «Stück Stoff» und eine Provokation gegen die Republik. Nach den Terroranschlägen von 2015 erklärte er in einem Tweet den Begriff «Islamophobie» für untauglich: «Man hat das Recht, den Islam nicht zu mögen, so wie man das Recht hat, den Katholizismus nicht zu mögen.» Er fügte sogar hinzu: «Es ist ein grosser Fehler, Islamophobie mit Rassismus zu verwechseln, und man hat das Recht und mitunter sogar die Pflicht, Religionen schonungslos zu kritisieren.»
Das ändert sich 2019, als er zusammen mit salafistischen Organisationen an einer Demonstration gegen die Stigmatisierung von Muslimen in Frankreich teilnimmt, nachdem die Moschee in Bayonne von einem 84-jährigen, geistig verwirrten Rechtsextremisten mit einem Maschinengewehr beschossen worden war. Von diesem Zeitpunkt an sollte sich seine Haltung gegenüber Israel und den Juden in Frankreich grundlegend ändern, ohne dass man weiss, ob es sich dabei um eine Rückkehr des Verdrängten oder um zynischen Pragmatismus handelt.
Vergiftete DebatteMélenchon folgte der Analyse des Politikwissenschafters Pascal Boniface, der Anfang des Jahrhunderts schätzte, dass es in Frankreich 5 bis 6 Millionen Muslime und nur 500 000 Juden gibt. Boniface vertrat die Ansicht, das Interesse der Linken müsse darin bestehen, sich den potenziell zahlreichsten Wählergruppen zuzuwenden. Mélenchon übernimmt diese Sichtweise und führt damit die alte Tradition des linken Antisemitismus fort.
Die Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 schaffte dafür den ideologischen Vorwand: Juden wurden von Deportierten zu Soldaten, von Staatenlosen zu militarisierten Siedlern, die das gleiche Land mit einem anderen Volk teilen mussten. Der Sechstagekrieg gibt der europäischen extremen Linken den Anlass, sich an die Seite der palästinensischen Organisationen und der angeblich unterdrückten Muslime, der neuen Verdammten dieser Erde, zu stellen.
1972 wurde der Anschlag auf die israelische Delegation an den Olympischen Spielen in München von vielen revolutionären Aktivisten bejubelt, unter ihnen der Trotzkist Edwy Plenel, dem kein Wort scharf genug war für die Opfer (was er später bereute). 1975 verabschiedete die Uno einen Antrag, der den «Zionismus zu einer Form von Rassismus» erklärte. Die Resolution löste eine Kontroverse aus und wurde schliesslich 1991 wieder annulliert. Die vergiftete Debatte aber war damit eröffnet und ging weiter.
Für die Mächte im Maghreb und im Nahen Osten ist der Zionismus eine moderne Variante des Imperialismus und des Faschismus. Der jüdische Staat wird zu einem bequemen Sündenbock für das Elend und die Frustrationen in der arabischen Welt: «Die Ablehnung Israels ist das stärkste Aphrodisiakum der Muslime», sagte der verstorbene marokkanische König Hassan II. Dieser Antizionismus erlaubt es auch einem Teil Europas, sich von seinen früheren Vergehen gegen das Judentum reinzuwaschen.
Absurde VorwürfeIsrael und seine zionistischen Unterstützer in Europa werden nun perverserweise aus antirassistischen Gründen angeprangert: Der Hass auf Juden ist tugendhaft geworden. Als ob die Nachkommen der KZ-Häftlinge nun den Henkern, die ihre Väter vergast haben, gleichgestellt würden. Und kein Verbrechen ist zu absurd, als dass es nicht dem Zionismus vorgeworfen werden könnte: Er habe Hitler aus dem Nichts erschaffen, er habe den Mythos des Holocaust erfunden, um daraus ein lukratives Geschäft zu machen. Aber auch für den 11. September in New York, den Tsunami 2004, das Pogrom vom 7. Oktober im Süden Israels sowie für die Erfindung des HI-Virus und des Coronavirus soll er verantwortlich sein.
Der jüdische Staat, eine Nation von Ausgestossenen, wurde in den Augen seiner Kritiker nach und nach zum Ausgestossenen der Nationen. Die Juden, einst exemplarische Opfer, haben diesen Titel an die Palästinenser verloren, deren Seligsprechungsprozess seit einem halben Jahrhundert unermüdlich vorangetrieben wird. Israel hat sich in den Augen seiner Kritiker doppelt schuldig gemacht: Als westliches Anhängsel, das sich im Nahen Osten festgesetzt hat, verberge es seinen territorialen Anspruch, und unter dem Deckmantel einer unüberwindbaren Ungerechtigkeit, dem Völkermord, begehe es nun selbst einen Völkermord in Gaza.
Gaza wird von der Linken als «neues Auschwitz» bezeichnet. Der Hass auf den Westen, auf beiden Seiten des Atlantiks, wird nun und vor allem nach dem 7. Oktober 2023 durch den Hass auf die Juden ausgedrückt. Damit werden sie als Vertreter des Westens zur emblematischen Gemeinschaft, nachdem sie jahrhundertelang dessen Sündenbock gewesen waren.
Jean-Luc Mélenchon war weniger der Initiator als vielmehr der Katalysator dieser Umkehrung. Aber er betreibt sie mit einem Eifer, der jeder Vorsicht spottet. Mélenchon, der sich als der französische Che Guevara oder Castro sieht, erinnert eher an Jacques Doriot, den ehemaligen kommunistischen Tribun. Stalin hatte ihm 1934 den Posten des Ersten Sekretärs der Kommunistischen Partei Frankreichs zugunsten von Maurice Thorez verweigert, worauf er mit den Deutschen kollaborierte. Er starb Anfang 1945 in einer Uniform der Waffen-SS, vielleicht als Opfer einer Abrechnung unter Nazis.
Bewunderer von Putin und AsadDer Antisemitismus, eine Leidenschaft der nationalen Rechten, ist in das Lager der postkolonialen und woken Linken übergegangen. Die grosse Herausforderung eines jeden politischen Kampfes besteht darin, seinem Feind nicht zu ähneln. LFI, die in jedem Satz die extreme Rechte anprangert und ihre kleinsten Widersacher als Nazis verunglimpft, ist ihrerseits zu einer faschistischen Partei der extremen Linken geworden.
Jean-Luc Mélenchon, ein grosser Bewunderer Xi Jinpings, Putins, Castros und Asads, ist also in Judenhass verfallen. Im April 2025 veröffentlichten die Journalisten Olivier Pérou und Charlotte Belaïch ein Buch über LFI, «La Meute» (Die Meute), in dem sie das System Mélenchon analysieren, das mit Drohungen, Belästigungen, sexistischer und sexueller Gewalt sowie undurchsichtiger Finanzierung operiere.
Mélenchon hat nur ein Wort, um die Autoren dieser Untersuchung zu beschreiben: «des dégénérés» (Degenerierte). Der Begriff ist bezeichnend zu einem Zeitpunkt, an dem im Picasso-Museum eine Ausstellung über die nach Ansicht der Nazis entartete Kunst stattfindet. Charlotte Belaïch, Journalistin bei «Libération» und sephardische Jüdin, erhält seither einen Schwall antisemitischer Nachrichten. Der Kreis schliesst sich.
Pascal Bruckner ist Philosoph und Schriftsteller. Er lebt in Paris. – Übersetzt aus dem Französischen.
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