Bei Goethe ist der Sinnsucher weniger geschwätzig – eine moderne Faust-Oper von Unsuk Chin


Vor Wolfgang Pauli zogen alle den Hut. Denn Pauli war einer der wegweisenden Physiker des 20. Jahrhunderts – einer, der von Gleich zu Gleich mit Grössen wie Einstein, Werner Heisenberg und Niels Bohr verkehrte. Robert Oppenheimer, durch Christopher Nolans Film von 2023 wieder als «Vater der Atombombe» in aller Munde, empfing während Paulis Zeit an der ETH Zürich wichtige Impulse von diesem brillanten Denker, den selbst die akademische Welt, ganz unwissenschaftlich, zum Genie erklärte.
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Er werde selbst Gott noch Rechenfehler in der Schöpfung nachweisen, stichelten seine Neider. Doch das Genie, das mit seinen Arbeiten zur Quantenmechanik tatsächlich wesentliche Antworten auf die Frage lieferte, was denn die Welt nun im Innersten zusammenhält, hatte eine dunkle Seite. Und obendrein war der Nobelpreisträger des Jahres 1945 offenbar ein ausgemachtes Ekel. So nahm Pauli gegenüber Schülern und Kollegen kein Blatt vor den Mund, wenn ihm deren Theorien nicht zu Ende gedacht erschienen. Einstein habe in Berlin «schrecklichen Quatsch verzapft», schrieb er 1929, demonstrativ unbeeindruckt, über die jüngsten Forschungen des Begründers der Relativitätstheorie.
Hinter der schroffen Fassade verbarg sich indes eine fragile, zutiefst gefährdete Persönlichkeit. Zeitlebens von bedrängend intensiven Traumvisionen heimgesucht, stürzte sich Pauli schon während seiner frühen Jahre in Hamburg immer wieder in Alkohol- und andere Exzesse, meist – nomen est omen – im Rotlichtviertel St. Pauli. Der Kampf mit seinen inneren Dämonen brachte ihn schliesslich in Kontakt mit dem Schweizer Analytiker und Freud-Antipoden Carl Gustav Jung. Der Briefwechsel zwischen den beiden überspannt fast drei Jahrzehnte, bis zu Paulis Tod 1958 in Zürich. Er gibt Zeugnis von dessen Hadern mit den Gewissheiten der Wissenschaft – und mit sich selbst.
Die Komponistin Unsuk Chin hat diese schillernde Persönlichkeit nun zur Hauptfigur eines Bühnenwerks mit dem Titel «Die dunkle Seite des Mondes» gemacht, das am Sonntag an der Hamburgischen Staatsoper zur Uraufführung kam. Chin leitet seit 2023 zusammen mit Dieter Ammann das Composer-Seminar am Lucerne Festival und wurde im vergangenen Jahr mit dem Ernst-von-Siemens-Musikpreis ausgezeichnet, dem inoffiziellen Nobelpreis für Musik. Nach ihrem phantasievollen Opernerstling «Alice in Wonderland» von 2007 hat sich Chin nun den Naturwissenschaften zugewandt, und sie entdeckt in dieser Sphäre die Konstellationen für ein modernes Faust-Drama.
Vor allem in der Begegnung zwischen Pauli und Jung lässt das von Chin selbst verfasste Libretto Parallelen zur Verführung des Sinnsuchers Faust durch Mephisto erkennen. Der Analytiker bestärkt den Wissenschafter darin, seine ausufernden Träume als Kehrseite seiner Persönlichkeit anzunehmen. Gleichzeitig erschüttert er damit aber dessen auf unbedingte Objektivität gerichtetes Weltbild als Forscher. An diesem Widerspruch zerbricht Pauli, der im Libretto Doktor Kieron heisst, aber über eine Anspielung auf den Familiennamen Pascheles, den seine jüdischen Vorfahren ablegten, eindeutig identifiziert wird.
Chins ambitioniertes Libretto, das noch mit weiteren Anspielungen, etwa auf Goethes «Faust»-Dramen, und allerlei Insider-Gags gewürzt ist, entpuppt sich allerdings zugleich als der Schwachpunkt des neuen Werks. Die Figuren reden und reden, und sie gefallen sich derart in ihrem mehr oder weniger geistreichen Monologisieren, dass das Bühnengeschehen immer wieder ins Stocken gerät. Zeitweilig wird sogar der Souffleur an diesem Abend wider Willen zum Mitspieler, denn solche Unmengen an Text, die überwiegend wie im Melodram deklamiert und nicht gesungen werden, wären selbst für erfahrene Schauspieler eine Herausforderung. Man wundert sich, dass niemand die Komponistin schon während des Produktionsprozesses vor diesem Fehler bewahrt hat.
Ruf nach dem RotstiftDas Versagen der Dramaturgie ist besonders bedauerlich, weil die Rahmenbedingungen stimmen: Das Konzept dieser «Faust»-Paraphrase ist brillant; die Idee, die Biografie eines modernen Wissenschafters – und dieses zumal – an der seit dem Mittelalter bekannten Parabel um die Grenzen und Abgründe unseres Erkenntnisdranges zu spiegeln, wirkt stimmig. Aber wieder einmal zeigt sich: Ein gutes Konzept garantiert noch keinen funktionierenden Opernabend, wenn man ein seit den Anfängen geltendes Gesetz der Gattung Oper ignoriert. Es lautet: Lass deine Figuren nicht bloss von Gedanken und Gefühlen schwatzen, sondern zeige diese auf der Bühne, lass davon singen – die Musik wird immer beredter sein als jedes Bonmot.
Die kompositorischen Mittel dazu besitzt Unsuk Chin – das zeigt sie in den stärkeren Momenten, in denen sie auf das Zusammenspiel von Musik und Szene vertraut. Etwa wenn Kieron alias Pauli, tapfer gesprochen und gesungen von Thomas Lehman, seiner jungschen Anima in Gestalt des Countertenors Kangmin Justin Kim begegnet. Oder wenn der Analytiker, der hier Meister Astaroth heisst, gegen Ende die Maske des Wunderheilers für gelangweilte Society-Ladys fallen lässt und sich als Seelenverführer zu erkennen gibt. Der Bariton Bo Skovhus, gestählt in allen Teufels- und Wozzeck-Rollen des Musiktheaters, lässt in diesem dichten Finale erahnen, wie stark die Oper wirken könnte, wenn die Komponistin zuvor dem Redeschwall Einhalt geboten hätte.
Immerhin hat Unsuk Chin Glück mit der Hamburger Produktion: Ben Kidd und Bush Moukarzel vom Regie-Kollektiv Dead Centre übersetzen die Handlung virtuos in eine traumähnliche Szenenfolge mit wiederkehrenden Bildmotiven, die Orientierung bieten. Und Kent Nagano, der sich nach zehn Jahren als Generalmusikdirektor von der Staatsoper verabschiedet, entfacht mit dem reich besetzten Orchester ein funkelndes Farbenspiel, das zugleich demonstriert, wie souverän Chin den grossen Apparat beherrscht. Doch der ganze Zauber nützt nichts. Wenn die Komponistin nicht noch einmal selbstkritisch zum Rotstift greift, wird auch dieser Faust unerlöst in der Versenkung verschwinden. Und diesmal wäre es nicht seine Schuld.
nzz.ch