Anfang der nuller Jahre platzte Grayson Perry in Frauenkleidern in die britische Kunstwelt. Er erkämpfte sich einen Platz im Bewusstsein der breiteren Öffentlichkeit


Lisa Maree Williams / Getty
Grayson Perry bekennt sich offen als Transvestit und nutzt die Figur Claire als Teil seiner Kunst und seines öffentlichen Lebens. Als Claire trägt er nicht etwa den Glamour-Look der Drag Queens, sondern so etwas wie bunte Puppenkleider, einen Topfhaarschnitt und ein Make-up, das auch aus meilenweiter Entfernung schon angemalt aussieht.
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Er erklärt, dass ihm sein Auftreten in Frauenkleidern dabei helfe, Themen wie Männlichkeit und Identität in seinen Werken zu erforschen, betont jedoch, dass er ein Mann sei und sich nicht als Frau identifiziere. Manchmal tritt der mit einer prominenten Psychiaterin verheiratete Vater einer Tochter auch als Mann auf. Seine mit grossem Selbstbewusstsein gesuchte Sichtbarkeit legt den Schluss nahe, dass er auch ein Showman ist, der die Stille des Ateliers gern mit dem Lärm öffentlicher Orte vertauscht.
Als Künstler tat er sich mit provokativen Töpfereien und Wandteppichen hervor. Aber das gerät fast in Vergessenheit angesichts seiner in leuchtende Farben gehüllten, eloquenten öffentlichen Persona. Grayson Perry ist ein umtriebiger Mann, der sich quer durch viele Disziplinen arbeitet. Zum Beispiel als Schriftsteller, Fernsehmoderator, Vortragsredner und Rundfunksprecher.
Dieser Tage zieht er mit einer One-Man-Show durch das Vereinigte Königreich, ein für einen bildenden Künstler ungewöhnlicher Beschäftigunszweig. Mehr als zwanzig Städte wird er besuchen, von London bis Coventry, von Exeter bis Glasgow – was für seine Popularität spricht.
Stereotypen von MännlichkeitSeine Mission ist es nicht nur, Kunst zu machen, sondern auch, ein Bewusstsein für Kunst und bestimmte Aspekte von Kultur und Gesellschaft zu vermitteln. Dazu besitzt er ein unglaubliches Talent. Es besteht unter anderem darin, das Besondere und das Schwierige kultureller Phänomene offenzulegen und zu diskutieren. Dabei spricht er auch Menschen an, die heute in einem Jargon, den er selbst nie benutzen würde, als «bildungsfern» bezeichnet würden.
Kurzum: Er ist ein komplexer Mann, der die Gabe besitzt, Komplexes einladend zu vermitteln. Dabei kommuniziert er nie herablassend, sondern auf Augenhöhe mit seinem Publikum. Es passt zu ihm, dass er eine seiner Auftrittsserien «Eine Show, in der es um Sie geht» nannte.
Bei aller Offenheit und Bereitschaft, sich auf das einzulassen, was das Leben ihm präsentiert, besitzt er – typisch englisch – ein fein gestimmtes Bewusstsein für gesellschaftliche Klassenunterschiede. In seiner dreiteiligen Reiseserie für den Fernsehsender Channel 4, «Grayson Perry’s Full English», untersuchte er beispielsweise, was England so englisch macht. Auch mit den Stereotypen von Männlichkeit beschäftigte er sich wiederholt.
Aber egal, auf welchem Terrain er unterwegs ist, ob es um typisch Britisches oder Merkmale der Maskulinität geht, entpuppt er sich als Klischeejäger, der nicht immer das Erwartbare sagt. So auch seine Antwort auf die Frage eines «Guardian»-Journalisten, wie er zu den Debatten über öffentliche Toiletten stehe – ob Menschen, die sich als weiblich identifizierten, Zugang zu Frauentoiletten haben sollten.
«In allen Situationen muss man Kompromisse eingehen», antwortete er. «Wenn die Mehrheit der Frauen das nicht gut findet, muss man auf sie hören. Denn jede Identität wird gemeinsam geschaffen. Wenn ich sage: ‹Ich bin X›, und Sie stimmen mir nicht zu, bin ich dann wirklich X?»
Kindesmissbrauch auf VasenBerühmt wurde Perry, der seine Töpferei 1985 in einem Abendkurs begonnen hatte, 2004 als Gewinner der bedeutendsten britischen Kunstauszeichnung, des Turner Prize. Damals präsentierte er ein Ensemble von traditionellen Keramikvasen, allerdings mit fein gezeichneten Darstellungen, die seit den heroischen Tagen der Antike eher selten auf Gefässen zu bestaunen waren: Krieg, Geschlechteridentität und Sexualität.
Perry gab an, mit seiner Kunst die Welt verbessern zu wollen. Vor allem habe er, der heute so hemmungslos unterhaltsam über alle Alters- und Klassengrenzen hinwegkommuniziert, seine finsteren Kindheitserinnerungen in sein Werk einbringen wollen, wie er damals in einem Interview erklärte.
Auf seinen von weitem so dekorativ aussehenden Vasen stellt er Kindesmissbrauch und Kindermord («We’ve Found the Body of Your Child») dar. Er kommentiert in «Boring Cool People» gut angezogene Langweiler und illustriert mit «Kinky Sex» und «Moonlit Wankers» genau das, was die Titel besagen.
Antiintellektuelles ImageBevor er den Turner Prize gewann, war sein Werk weder in der Kunstwelt noch in der des Kunsthandwerks akzeptiert worden. Kritiker warfen ihm seinerzeit stilistischen Konservatismus und einen Mangel an künstlerischem Wagemut vor sowie die Tatsache, dass sein Transvestiten-Image und seine Vasen in nicht wirklich überzeugender Verbindung zueinander stünden. Perrys Status änderte sich schlagartig, als der Grosssammler Charles Saatchi seine Arbeiten kaufte.
Auch in Publikumsbefragungen zum Turner Prize rangierte er mit seinem bewusst geschaffenen antiintellektuellen Medien-Image auf Platz eins. Er besass, was die Briten an Figuren des öffentlichen Lebens so lieben: robusten Humor, Selbstironie, ein extrovertiertes Wesen und die Bereitschaft, gegen den Strom zu schwimmen.
Mit diesen Eigenschaften ausgerüstet, bewegte er sich im Laufe seiner Karriere von einer künstlerischen Aussenseiterposition in den Mainstream und wurde zur beliebten Kulturpersönlichkeit: Heute zählt der 1960 geborene Arbeitersohn aus Essex zu den Mitgliedern der Royal Academy of Arts und erhielt 2023 den Ritterschlag.
Die One-Man-Show, mit der er durchs Land zieht, steht unter dem Motto: «Sind Sie gut?» Damit meint er es – halb – ernst und richtet sich in der schriftlichen Online-Ankündigung schon im Voraus an sein künftiges Publikum: «Sind Sie gut? Eine Frage, die meiner Meinung nach für unsere Menschlichkeit von grundlegender Bedeutung ist.»
Und weiter deklariert er: «In dieser Show werde ich Ihnen, dem Publikum, dabei helfen, herauszufinden, ob Sie wirklich durch und durch gut oder vielleicht doch eher böse sind – aber auf unterhaltsame Weise. (. . .) Sind Sie so tugendhaft, wie Sie glauben? (. . .) Ist es wichtiger, gut zu sein, oder recht zu haben? Es ist an der Zeit, neu zu definieren, was eine Tugend und was eine Sünde ist. Keine grosse Sache. Mit freundlichen Grüssen, Grayson Perry».
nzz.ch