Filmfestival Cannes: Mascha Schilinski gewinnt den Jury-Preis

Vor neun Jahren mischte ein deutscher Wettbewerbsfilm Cannes so richtig auf: die Komödie „Toni Erdmann“ (2016). Sandra Hüller als karrieristische Managertochter veranstaltet darin eine Nacktparty, Peter Simonischek als verunglückter Spaßmacher-Vater schiebt sich das Hasenzähne-Gebiss ein.
Damals tippte keinesfalls nur die stets ein wenig parteiische deutsche Fangemeinde auf einen Preis beim wichtigsten Filmfestival der Welt, bei dem die Deutschen oft nur Zaungast sind. Doch dann erklomm am Abend der Preisgala niemand vom Filmteam um Maren Ade die rote Treppe zum Palais. Da war klar: wieder nichts fürs deutsche Kino und wieder keine Auszeichnung für eine Regisseurin.
Das war an diesem Samstagabend anders, auch wenn Mascha Schilinski zunächst ihren Ohren nicht trauen mochte: „Ich habe Angst gehabt, dass ich es falsch gehört habe“, sagte die 41-Jährige. „Es war irgendwie ein surrealer Moment, einfach wundervoll.“ Schilinski gewann mit ihrem Frauendrama „In die Sonne schauen“ am Ende zwar nicht die Goldene Palme, die dem Iraner Jafar Panahi mit „It Was Just an Accident“ gebührte. Doch schnappte sich die Berlinerin den Jury-Preis (zusammen mit dem Franzosen Oliver Laxe).
„In die Sonne schauen“ (Kinostart: 11. September) ist nach „Die Tochter“ erst Schilinskis zweiter Kinofilm. „Er erzählt von vier Mädchen, die zu unterschiedlichen Zeiten über den Zeitraum eines Jahrhunderts hinweg auf demselben Hof in der ländlichen Altmark aufwachsen. Obwohl durch die Zeit voneinander getrennt, beginnen sich die Leben der Mädchen gegenseitig zu spiegeln“, sagte die Regisseurin dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Er funktioniert wie ein assoziativer Bilderstrom, der die Erinnerungsfragmente aller Figuren auf dem Hof miteinander verbindet. Bruchstücke, die sich zu einem eigentlich unmöglichen Zeugnis einer kollektiven Erfahrung formen.“

Frauengeschichten, die von einem ganzen Jahrhundert erzählen: Szene aus "In die Sonne schauen".
Quelle: Neue Visionen Filmverleih
Mit ihrem Werk eröffnete Schilinski vor bereits eineinhalb Wochen den stark bestückten Wettbewerb in Cannes. Und wenn seitdem immer wieder ein Satz aus Südfrankreich nach Deutschland drang, dann war es dieser: Sie habe mit ihrem beeindruckenden Film die Latte für alle anderen Wettbewerbsteilnehmer und Wettbewerbsteilnehmerinnen hochgelegt. Offenbar blieb das Drama auch der Palmen-Jury um Präsidentin Juliette Binoche trotz 21 nachfolgender Filme im Gedächtnis haften.
„Der Film hat es verdient, gesehen zu werden. Und es ist toll, dass das jetzt vor einem weltweiten Publikum passiert“, hatte Schilinski dem RND gesagt. Daraus sprach ein gesundes Selbstvertrauen.
Schilinski übernahm bereits als Schülerin Rollen im Kino und Fernsehen. Nach dem Abitur ließ sie sich den Wind um die Nase wehen – als Zauberin und Feuertänzerin bei einem kleinen italienischen Wanderzirkus. Ihr Berufsziel verlor sie nie aus den Augen: Sie absolvierte diverse Praktika in der Filmbranche, drehte Werbeclips und studierte szenische Regie an der Filmakademie Baden-Württemberg.
Mit ihrem Kinodebüt „Die Tochter“ (2017) mit Helena Zengel schaffte sie es zur Berlinale. Diese hat jetzt das Nachsehen. Nach Schilinskis Worten hatte sie ihren Film auch dem deutschen Hauptstadt-Festival angeboten. Cannes war schneller mit seinem untrüglichen Instinkt für Talente.
Nun genießt Schilinski die größtmögliche Aufmerksamkeit, die eine junge Autorenfilmerin auf sich ziehen kann. Das tut auch dem deutschen Kino gut – zumal ebenso Fatih Akin mit „Amrum“ und Christian Petzold mit „Miroirs No. 3“ in renommierten Nebenreihen in Cannes Lob einsammelten. Es sind nicht mehr nur die Veteranen wie Wim Wenders oder Volker Schlöndorff, die im Kinoolymp an der Côte d’Azur Einlass finden.
Das Bemerkenswerteste aber ist: Endlich rücken Regisseurinnen ins Zentrum, sogar in der Männerbastion Cannes, die sich offenbar nach zähem Widerstand allmählich weiblichen Kräften öffnet. Bislang haben dort erst drei Frauen die Goldene Palme gewonnen (Jane Campion, Julia Ducournau, Justine Triet).
Schilinski dürfte mit ihrem Preis anderen jungen Regisseurinnen den Weg ebnen, die es anderenorts bei ihrer Arbeit noch schwerer haben. In ihrer politischen Dankesrede erinnerte sie an diese: „Wir möchten diesen Preis all jenen widmen, die an Orten leben, an denen es nicht leicht ist oder unmöglich oder kaum möglich ist, Filme zu machen – und besonders jungen Filmschaffenden und insbesondere Frauen: Eure Stimmen sind wichtig. Gebt sie nicht auf.“
rnd