Nach Erdoğans Warnung an Merz: Droht Europa eine neue Flüchtlingswelle aus dem Iran?

Die Szenen sind dramatisch: Die Angriffe Israels gegen Einrichtungen des iranischen Regimes treiben seit Tagen zahlreiche Menschen im Iran in die Flucht. Bilder von langen Autoschlangen auf den Ausfallstraßen Teherans gehen um die Welt. Von der Grenze zu Armenien wird berichtet, dass dort Hunderte aus Furcht vor Luftschlägen ausharren.
Der Aufruf Israels am Montag an die Bewohner Teherans, die iranische Hauptstadt zu verlassen, wird sein Übriges getan haben. Denn obwohl Israel sich dem Ziel verschrieben hat, das iranische Atomprogramm auszuschalten, kommen auch Zivilisten zu Schaden. Laut dem iranischen Gesundheitsministerium sollen bis Montag etwa 200 Zivilisten getötet worden sein, auch wenn sich diese Zahlen kaum unabhängig bestätigen lassen.
Der weitere Verlauf des Krieges ist vollkommen offen. Wie lange werden die Kämpfe zwischen Israel und dem Iran weitergehen? Werden die Vereinigten Staaten eingreifen? Wird der Konflikt sich ausweiten? Klar ist: Zieht sich der Krieg in die Länge, steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass sich größere Fluchtbewegungen entwickeln.
Die Kriegsführung Israels lässt nicht auf Massenflucht schließenOffenbar treibt das auch den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan um. Der warnte unlängst Bundeskanzler Friedrich Merz in einem Telefonat vor einer „von Israels Angriffen ausgelöste Gewaltspirale“ – mit einer massiven Fluchtwelle als Folge, die auch Europa schaden könne.
Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR gab am Freitag bekannt, dass es derzeit Krisenpläne für einen Flüchtlingsansturm erstelle. Und Alexander Throm, innenpolitischer Sprecher der Union im Bundestag, sagte in dieser Woche dem Sender NTV, es setze sich derzeit „eine Fluchtwelle in Bewegung“. Noch spüre man in Europa davon wenig, „aber es ist ja nicht weit weg“.
Die Art der Kriegsführung entscheide dennoch darüber, ob sich Flüchtlingsbewegungen entwickelten, sagt Franck Düvell der Berliner Zeitung. Er ist Leitender Wissenschaftler am Institut für Migrationsforschung der Universität Osnabrück. Die Nadelstich-Taktik der Israelis, die sich gegen militärische und staatliche Einrichtungen richte, sei nicht mit den Situationen in der Ukraine oder Gaza zu vergleichen. Deswegen würde es ihn sehr überraschen, sollten nun Iraner in großer Zahl ihr Land verlassen. „Vielleicht gibt es Familien, die Frauen und Kinder in Sicherheit bringen wollen, oder Oppositionelle, die befürchten, ins Fadenkreuz zu geraten“, so Düvell.
Üblicherweise verließen Menschen erst einmal das unmittelbare Kampfgebiet – „aufs Land, in andere Städte, irgendwohin, wo man erst mal aus der Schusslinie ist“, sagt der Migrationsforscher. Danach würden sich Migrationsströme zunächst in die Nachbarländer bewegen. „Erst wenn das lange anhält, beginnt eine weitere Migration, etwa Richtung Europa. Das dauert meist Jahre.“ Das Beispiel Syrien zeige das. Dort begann schon 2011 ein verheerender Bürgerkrieg, jedoch flohen erst ab 2014 Menschen in großen Zahlen in Richtung Europa.
Migrationsforscher: „Von der Türkei bis Europa ist es ein langer Weg“Sollten Iraner nach Europa flüchten wollen, würden sie sich vermutlich dorthin orientieren, wo bereits viele Exil-Iraner leben. Dem iranischen Außenministerium zufolge waren das im Jahr 2021 etwa vier Millionen weltweit. In Frankreich, Großbritannien und Deutschland gibt es nennenswerte exiliranische Communities. Diese bildeten sich nach vorherigen gesellschaftlichen Umbrüchen, etwa nach der Islamischen Revolution 1979. „Damals waren es vor allem Oppositionelle, die das Land verlassen haben“, erklärt Franck Düvell. Viele von ihnen seien gut ausgebildet gewesen – „Akademiker, Fachkräfte, Intellektuelle“.
Genau in diesen Umbrüchen liegen auch mögliche Fluchtgründe. „Große Umbrüche können im Schatten von Kriegen entstehen“, sagt der Forscher Düvell. Es sei nicht ungewöhnlich, dass autoritäre Systeme in Zeiten äußerer Konflikte innenpolitisch repressiver würden. Dafür sei die deutsche Novemberrevolution 1918/19 ein Beispiel. Im Gefolge zunehmender Repression im Iran könnte eine Fluchtwelle beginnen, „möglicherweise schneller und umfassender, als es die militärische Lage allein nahelegt“.
Dies könnte insbesondere in der kurdischen Region Irans der Fall sein, in der separatistische Gruppen seit Jahrzehnten gegen den Staat kämpfen. Dort begannen auch die Proteste nach dem gewaltsamen Tod der Kurdin Jina Mahsa Amini im Jahr 2022, die das iranische Regime blutig niederschlug. Kurden, so Migrationsforscher Düvell, könnten im Falle eines Aufflammens von Gewalt in Richtung Türkei fliehen. „Aber auch da gilt: von der Türkei bis Europa ist es ein langer Weg.“
In einer speziellen Situation seien die mehreren Millionen afghanischen Flüchtlinge, die teils seit Jahrzehnten im Iran leben. Viele von ihnen seien zwar im Land geboren worden, hätten jedoch keinen legalen Aufenthaltsstatus. Sie können nicht in ihr Heimatland zurück, sind im Iran vom Krieg unmittelbar betroffen und gleichzeitig in Ländern wie der Türkei von sofortiger Abschiebung bedroht. Bei einer weiteren Eskalation der Gewalt könnte von ihnen eine sekundäre Migrationsbewegung ausgehen, so Düvell.
Berliner-zeitung