Ameisenplage in Deutschland? Experten warnen vor invasiver Art Tapinoma magnum

Kehl. Die Überreste des Klettergerüstes ragen aus dem Boden, wie das Skelett eines ausgegrabenen Urzeittiers. Es ist ein Relikt aus einer längst vergangenen Zeit. Wo früher ein Spielplatz war, ist heute nur noch eine große Sandfläche. Zwei Bagger flankieren das Gerüstskelett, so, als wollten sie klarmachen, wer ihr nächstes Opfer ist.
Der Grund für die Tristesse auf dem Spielplatz in Kehl im Südwesten Deutschlands ist nur wenige Millimeter groß – und treibt Städte und Kommunen zur Verzweiflung: die Tapinoma magnum, die Große Drüsenameise. Die invasive Art, eigentlich heimisch im Mittelmeerraum, fühlt sich mittlerweile auch in Deutschland ganz wohl – nicht zuletzt wegen des Klimawandels. Und es scheint, als müssten dort, wo sie sich eingenistet hat, früher oder später die Bagger anrücken und alles abreißen.
Den Kehlerinnen und Kehlern krabbelte die Tapinoma magnum letztes Jahr millionenfach in Autos, Spülmaschinen und Kinderzimmer. Sie zerfraß Stromkabel und legte das Internet lahm. Auch der Spielplatz wurde dicht gemacht, weil sich Platten hoben und Hohlräume bildeten – zu hoch das Sicherheitsrisiko für die Kinder. Der Fall ging bundesweit durch die Presse. Die Berichte sind weniger geworden, aber die Ameisen sind nicht verschwunden.
Wo früher ein Spielplatz war, ist heute nur noch Sand. Der Grund: die invasive Ameisenart Tapinoma magnum.
Quelle: Josephine Kanefend
Die zerstörerische Kraft der Tapinoma magnum liegt in ihrer Fähigkeit, Superkolonien zu bilden: Statt sich wie andere Ameisenarten untereinander zu bekämpfen, schließen sich verschiedene Völker zusammen. So können sie Hunderte oder sogar Tausende Königinnen ausbilden – und sich rasant vermehren. Bis zu 20 Hektar kann eine solche Superkolonie einnehmen.
Das macht es auch so schwer, die Ameisen zu bekämpfen. Herkömmliche Insektizide helfen kaum. Nur der großflächige Einsatz von heißem Wasser scheint bisher Wirkung zu zeigen. Die Stadt Kehl legte sich dafür im vergangenen Jahr extra ein entsprechendes Gerät zu und schaffte zwei Vollzeitstellen allein für die Bekämpfung der Tapinoma magnum – Kosten im sechsstelligen Bereich. Das hilft etwas. Nachhaltig vertreiben lässt sie sich allerdings auch davon bisher nicht.
Und die Große Drüsenameise ist schon längst nicht mehr nur ein Problem für Kehl – in ganz Baden-Württemberg breitet sie sich aus, und auch in Hamburg wurde bereits ein Fund gemeldet. In Hannover macht die Tapinoma ibericum, eine enge Verwandte der Tapinoma magnum, einem Supermarkt zu schaffen. Droht also eine deutschlandweite Ameisenplage?
Hundert Kilometer von Kehl entfernt beugt sich Amelie Höcherl über ihr „Bino“, wie sie es liebevoll nennt. Höcherl ist Entomologin am Naturkundemuseum Stuttgart. Seit Januar arbeitet sie an einem neuen Forschungsprojekt mit, eine Kooperation zwischen dem Stuttgarter Museum und dem Naturkundemuseum Karlsruhe.
Das Ziel: „Genomische und ökologische Analysen der Ausbreitung der invasiven Ameisenart Tapinoma magnum in Baden-Württemberg als Grundlage für ein effektives Management“.
Höcherl und ihre Kollegen wollen also herausfinden, wie sich die Tapinoma magnum verbreitet und was das für den zukünftigen Umgang mit ihr bedeutet, denn: „Die Ameise ist gekommen, um zu bleiben. Wir werden sie nicht mehr los. Das ist jetzt eher eine Frage des Managements“, sagt Höcherl. Soll heißen: Ja, es ist wahrscheinlich, dass die Große Drüsenameise bald auch in anderen Städten vor der Tür steht – wenn sie nicht schon längst da ist.

Die Tapinoma magnum ist pechschwarz und kann Superkolonien bilden, die sich teils über mehrere Hektar ausbreiten.
Quelle: Uli Deck/dpa
Um das herauszufinden, sind die Forschenden auf die Mithilfe der Bevölkerung angewiesen. Wer einen Verdacht auf Tapinoma magnum hat, kann Fotos oder Proben von den Insekten einschicken. Citizen Science nennt sich dieser Forschungsansatz, also die Einbindung von Bürgerinnen und Bürgern in den Wissenschaftsbetrieb. Das eingeschickte Material wird dann von den Forschenden untersucht – bestätigen sie den Verdacht, ist die Tapinoma magnum auf der Deutschlandkarte wieder ein Stückchen weiter gekrabbelt.
„Es ist eigentlich ein Wunder, dass es massive Ausbrüche in Südwest-Deutschland gibt, aber noch keine Meldungen aus Thüringen oder Sachsen“, sagt Dr. Bernhard Seifert. Er ist Ameisenexperte am Senckenberg Museum für Naturkunde Görlitz.
Das läge aber nicht daran, dass es im Osten keine Großen Drüsenameisen gibt – viel wahrscheinlicher sei, dass sie noch nicht entdeckt wurden. Er habe das sächsische Landesamt für Umwelt schon auf die drohende Gefahr aufmerksam gemacht, doch bisher sei nichts passiert. „Die schlafen“, sagt Seifert.
Ein Vorwurf, der nicht nur aus der Wissenschaft kommt. „Am Anfang wurde das kleingeredet“, sagt auch Herbert Michalski. Sein Haus liegt direkt neben dem von Ameisen befallenen Spielplatz in Kehl. Er meint: „Vor Corona fing der ganze Mist hier an.“ Aber die Stadt habe nicht schnell genug reagiert.

In Kehl wird die Tapinoma magnum mittlerweile mit heißem Wasser bekämpft, denn herkömmliche Insektizide helfen kaum.
Quelle: Annette Lipowsky/Stadt Kehl/dpa
Jeden Morgen läuft Michalski jetzt „Streife“ – „damit mir die Mistviecher nicht zu nahe kommen.“ Seine Frau will dieses Jahr auf den Sommerurlaub verzichten, aus Angst, die Ameisen könnten ins Haus eindringen.
Zumindest in Baden-Württemberg ist die Politik mittlerweile aufgewacht – auch dank Bernd Mettenleiter. Der fährt an diesem Montagnachmittag am Kehler Spielplatz mit seinem E-Auto vor. Gestreiftes Hemd, blaue Jeans, Turnschuhe – ein Grünen-Politiker, wie er im Buche steht.
Mettenleiter ist Abgeordneter für den Wahlkreis Kehl im baden-württembergischen Landtag. Er hat das Tapinoma-Forschungsprojekt initiiert. Zunächst ist es auf zwei Jahre ausgelegt. 210.000 Euro hat Mettenleiter dafür aus dem Haushalt des Landes lockermachen können.
Mit den Ameisen hat der ehemalige Biolehrer keine Berührungsängste – im Gegenteil. Mettenleiter kniet sich auf den Sand, schnappt sich ein Insekt und zerquetscht es zwischen Daumen und Zeigefinger: „Riechen Sie mal. Riecht nach Nagellackentferner.“ Das ist dann individueller Geschmack, aber auf jeden Fall ist der charakteristische Geruch ein Merkmal der Tapinoma magnum.
„Für die Kommunen ist die Ameisenplage natürlich eine finanzielle Herausforderung“, sagt Mettenleiter. Deshalb sei es wichtig, „zukunftsorientierte Lösungen“ zu finden. Das Forschungsprojekt soll dabei helfen.
Bernd Mettenleiter (Grüne) hat das neue Tapinoma-Forschungsprojekt initiiert. 210.000 Euro hat er dafür aus dem Haushalt des Landes Baden-Württemberg locker gemacht.
Quelle: Josephine Kanefend
Die Idee ist, dass Betroffene und Kommunen sich vernetzen und Wissen austauschen, schließlich ist Kehl nicht die einzige Stadt, die Probleme mit der Tapinoma magnum hat. Auch mit Partnern in Frankreich und in der Schweiz ist man in Kontakt.
Dass die Ameise in ihren Ursprungsregionen keine Probleme verursacht, liegt daran, dass sie dort natürliche Feinde hat. In Deutschland scheint die Tapinoma magnum hingegen nur wenig zu stören. Eingeschleppt wurde sie vermutlich durch Pflanzentransporte aus dem Mittelmeerraum. Erste Fälle wurden 2009 in Rheinland-Pfalz registriert.
Seitdem hat sich die Ameise immer weiter ausgebreitet. Weil ihre Nester bis zu einem Meter tief unter der Erde liegen, überlebt sie auch im Winter – selbst bei Temperaturen von bis zu minus 15 Grad Celsius. Aber auch der Klimawandel dürfte die Ausbreitung von Tapinoma magnum begünstigen.
„Unsere Hypothese ist, dass der Klimawandel eine Rolle spielt“, sagt Amelie Höcherl vom Naturkundemuseum Stuttgart. Das herauszufinden ist ein Ziel des neuen Forschungsprojektes. Dafür gleichen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Verbreitung der Tapinoma magnum mit Klimadaten ab. So wollen sie auch Prognosen für die Zukunft treffen können.
Gestiegene Temperaturen und weniger Frost in Nordeuropa führen dazu, dass invasive Arten aus wärmeren Regionen auch hier langfristig überleben können. Deshalb könnte das Tapinoma-Forschungsprojekt auch wichtige Erkenntnisse für den Umgang mit anderen nicht-heimischen Arten liefern, so Höcherl.
Höcherl redet viel im Konjunktiv, spricht von „Hypothesen“ und noch offenen „Forschungsfragen“, konkretisiert ihre eigenen Aussagen immer wieder, damit ja kein falsches Bild entsteht. Vieles sei noch nicht geklärt, einiges wird man vermutlich nie klären können. So funktioniert Wissenschaft eben.
Einige Menschen können oder wollen das nicht verstehen, so scheint es. Zu langsam, zu unkonkret, zu widersprüchlich – Vorwürfe, mit denen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler immer wieder konfrontiert sehen. Und dann ist da ja noch der berühmte Elfenbeinturm.
Amelie Höcherl und ihre Kollegen untersuchen die Tapinoma magnum, um mehr über die Ausbreitung der Ameise und den zukünftigen Umgang mit ihr herauszufinden.
Quelle: Josephine Kanefend
Deshalb ist Höcherl überzeugt von Citizen Science: „Der Vorteil ist, dass die Bürgerinnen und Bürger sich in der Wissenschaft beteiligen können.“ Außerdem hätten die Forschenden ohne die Citizen Scientists deutlich weniger Ameisenproben. „Viele Augen sehen mehr“, sagt Höcherl.
Auch Grünen-Politiker Mettenleiter ist begeistert von Citizen Science. Kurz blitzt der Lehrer in ihm durch: „Dahinter steckt auch der heimliche Plan, Menschen zu zeigen, dass Wissenschaft nicht abgehoben ist und aus dem Elfenbeinturm arbeitet, sondern konkrete Lösungen schafft.“
Dieser Lehrplan scheint noch nicht bei allen angekommen zu sein. Klingeln bei den Osthofs. Das Haus liegt gegenüber der Michalskis, die dieses Jahr wegen der Ameisen nicht in den Urlaub fahren. Ein älterer Herr mit Jogginghose und Pantoffeln öffnet die Tür.
Ob er schon von dem neuen Forschungsprojekt gehört habe? „Nein.“ Und: „Das macht ja für den Moment keinen Unterschied. Daraus entsteht dann irgendwann eine Dissertation, aber man braucht jetzt Lösungen und nicht irgendwann in der Zukunft.“
Er selbst wolle sich als Nächstes ein bestimmtes Gel gegen die Ameisen kaufen, davon habe er im Internet gelesen. Die Nachbarin schwört dagegen auf Backpulver. An die Heißwasserbekämpfung der Stadt glaubt sie nicht so recht: „Da lachen sich die Ameisen kaputt. Die sollen mal was Ordentliches machen.“ Auf ihr Grundstück lässt sie die Mitarbeiter des städtischen Betriebshofs trotzdem. Schaden kann es ja nicht. Zumindest nicht mehr als die Ameisen.
rnd