Ezzes von Estis | Luftmensch
Einige sagen, ich sei ein Luftmensch. Ein Luftmensch ist überall und nirgends, ein Luftmensch schlägt keine Wurzeln, ein Luftmensch geht keiner konsequenten Tätigkeit nach, ein Luftmensch ist mehr Wind, als er überhaupt ein Wesen ist.
Einige sagen also, ich sei ein Luftmensch. Aber das stimmt nur bedingt. Ich bewege mich stets auf dem Boden der Tatsachen, meine Aussagen sind immer fundiert, meine Fachkenntnisse sind meine feste, unverrückbare Basis, meine Werke sind meine Stützpfeiler, meine Methode ist eine betonierte Straße.
Aber so viel ist richtig: Meine Arbeit bewegt sich auf einem außerordentlich abstrakten, auf einem mehr als abstrakten Niveau. Mein Gebiet ist die Methodologie der Formalisierung von Theorien. Derzeit schreibe ich ein Buch, worin ich versuche, ein Modell dafür zu finden, wie wissenschaftstheoretische Wissenschaftsmodelle sich wandeln.
Und hierin nun ist es wesentlich, alle hindernde Konkretheit zu überwinden, sich aus der Umklammerung des Singulären herauszureißen, von der Perfidie der Spezifik sich zu befreien. Zum Beispiel könnte ich auch jetzt in aller Ausführlichkeit berichten darüber, dass die breitere Klinge der am 10. Oktober von mir beim Kohn käuflich erworbenen Bartschere etwa 13 Millimeter unterhalb der Spitze eine in ihrer Herkunft unerklärliche Einkerbung zeigt, die beim gestrigen Stutzen des Schnurrbarts ein empfindliches Reißen an einem Härchen verursacht hat. Selbst der Umstand, dass ich einen Schnurrbart trage, ja dass ich überhaupt Haare besitze oder sonstige Attribute, ist schändlich akzidentiell und geradezu erschreckend irrelevant.
All die Konkreta, die uns umgeben, verstellen die Sicht auf die dahinterliegenden Kategorien. Herauspulen soll man die kategorischen Rosinen aus der teigigen Masse des Akzidentiellen. Auch dies ist übrigens ein Modell der Theorienbildung, wenngleich ein ganz und gar profanes, und also, obschon mittelbar, Gegenstand meiner Forschung.
Man kann auch ein anderes Modell wählen. Alle Attribute sind dann Ballast, alle Prädikationen, alle Qualifikationen, alle Quidditäten – Ballast, den man abwerfen muss, um aufzusteigen in die nötige Höhe, will sagen, um in nötigem Maße abstrahieren zu können; und abstrahieren muss ich, sogar extrem.
Es ist also nicht ganz falsch, wenn ich manchmal als abgehoben bezeichnet werde. Das darf man sicherlich nicht zu wörtlich nehmen. Und dennoch, seit ich an meinem Buch arbeite, habe ich beim Gehen immer öfter das Gefühl, als bliebe ich, gleichsam zwischen den Schritten, immer etwas länger in der Luft.
Was natürlich noch nichts bedeuten muss. Aber man kann es durchaus auch begreifen als eine – wennzwar noch geringfügige – Entwicklung hin zur Überwindung der Schwerkraft, hin zum triumphalen Sieg der Theorie über die Materie. Und ich werde mich also nicht dagegen verwehren, sondern es im Gegenteil als Anerkenntnis meiner Errungenschaft betrachten, wenn man mich in dieser Hinsicht einen Luftmenschen nennt.
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