Gefühlsausbruch eines Bewohners von Los Angeles: Ich reagiere empfindlich, wenn Menschen gejagt werden

Greg Castelnuovo-Tedesco spricht über Trumps Razzien und die Proteste in Los Angeles. Er erinnert sich an die Flucht seines jüdischen Großvaters aus Mussolinis Italien.
Wir erwischen Greg Castelnuovo-Tedesco an einem Ort, an dem die Einwohner von Los Angeles viel Zeit verbringen: im Auto. Er ist 62 Jahre alt, Finanzberater und gerade auf dem Weg zur Graduiertenfeier einer seiner Töchter. Freimütig erzählt er, wie er als Ureinwohner der Stadt und Mitglied der großen jüdischen Gemeinde von L.A. die vergangenen Tage erlebt hat, die gegen illegale Migranten gerichteten Razzien und Demonstrationen und den Einsatz der Marines durch den amerikanischen Präsidenten Donald Trump.
Herr Castelnuovo-Tedesco, wie hat sich das Leben in Los Angeles in den vergangenen Tagen angefühlt?
Ziemlich unwirklich. Wir haben vier Millionen Einwohner, in der gesamten Region sind es vielleicht 15 Millionen. Aber das Gebiet, in dem die Demonstrationen stattfanden, ist winzig. Es ist eigentlich nur die Innenstadt. Trotzdem hat sich viel verändert. Zuvor, wenn ich eine Sirene hörte, dachte ich an einen Polizeieinsatz oder einen Einsatz der Feuerwehr. Aber jetzt denkt jeder, es findet eine Razzia statt. Vor allem die, die keine Papiere haben, keine Green Card - die Kindermädchen, Haushälter, Gärtner. Manche sind wie Familienangehörige. Und sie haben jetzt Angst. Angst, den Bus zu nehmen, in die Kirche zu gehen oder zum Einzukaufen. Manche überlegen, in ihr Land zurückzukehren. Dabei war Kalifornien mal ein Teil von Mexiko, die Hälfte der Städte haben mexikanische Namen, wir essen mexikanisch, wir feiern Cinco de Mayo, den mexikanischen Nationalfeiertag.
Sie meinen, die Migranten gehören zu Kalifornien?
Genau. Und viele, auch ich, fühlen sich eher als Kalifornier denn als US-Amerikaner. Und diese illegitime Bundesregierung marschiert in meinen Staat ein! Was mich auch aufregt: Der rechte Flügel in den USA hat sich immer für die Rechte der Bundesstaaten eingesetzt. Das war das Argument für die Sklaverei, für das Anti-Abtreibungsgesetz oder das Electoral College, das den Präsidenten wählt, all dieses reaktionäre Zeug. Aber wenn ein Bundesstaat etwas dagegen hat, das ICE (United States Immigration and Customs Enforcement, die größte Polizei- und Zollbehörde des Ministeriums für Innere Sicherheit der USA, Anm. der Redaktion) einmarschiert oder Bundestruppen wie die Marines, dann gilt ihnen die Autonomie der Bundesstaaten auf einmal nichts mehr. Das ist doch Heuchelei!
Warum nennen Sie Ihre Regierung illegitim? Sie ist doch durch eine Wahl ins Amt gekommen.
Das ist die Frage. Hier wird schon diskutiert, ob Elon Musk das Wahlergebnis nicht technisch manipuliert hat. Und das andere Problem ist, dass die Hälfte der Wählerschaft gar nicht zur Wahl gegangen ist. Und er spricht trotzdem von einem Erdrutschsieg.
Sie sagen immer „er“. Wollen Sie Trumps Namen nicht aussprechen?
Ich nenne ihn Trumpolini, denn meine Familie hat den Faschismus in Italien erlebt. Mein Großvater musste das Land 1939 verlassen, kurz bevor der Krieg ausbrach. Er war ein berühmter Komponist, Mario Castelnuovo-Tedesco. Jascha Heifetz und Arturo Toscanini haben ihm geholfen, in die USA zu emigrieren. Das ist auch ein Grund dafür, warum ich sehr empfindlich reagiere, wenn Menschen gejagt werden. Es erinnert mich daran, dass auf Menschen aus meiner Familie Jagd gemacht worden ist. Diese Regierung ist böse, sie schickt die Menschen, die sie festnimmt, nicht mal in ihr Land zurück, sondern steckt sie in Gefängnisse. In Gefängnisse, die auf Profit hinarbeiten, deren Aktien man kaufen kann.

Im Moment beruhigt sich die Lage, oder?
Ich hoffe es. Ich war auch bei den Demonstrationen, und wir haben überlegt, dass wir künftig weniger mexikanische Fahnen, sondern mehr amerikanische zeigen wollen. Wir wollen nicht Trump in die Hände spielen, denn er will die Gewalt. Er würde am liebsten das Kriegsrecht einführen. Viele denken, er wäre am liebsten ein Diktator.
Könnte es nicht auch sein, dass er illegale Immigration wirklich als Problem sieht?
Ich weiß es nicht. Er wirkt einfach wie geistesgestört. Ich arbeite jetzt als Finanzberater, aber davor habe ich 20 Jahre lang als Baustellenleiter gearbeitet. Mit Menschen aus Mexiko, Nicaragua, Guatemala. Alles Leute, die hart arbeiten und mit denen man gut auskommt. Und illegal bedeutet nicht kriminell, manche sind dabei, ihre Papiere zu besorgen. Das dauert unheimlich lang. Aber Trump versucht sie zu kriminalisieren.
Glauben Sie, dass die vergangenen Tage Los Angeles verändert haben?
Ich hoffe nicht. Es wird davon abhängen, ob die Schwarze und die angelsächsische Community die Chicanos unterstützen. Dass es Solidarität gibt, die uns stärkt. Heute Morgen in den Nachrichten hat sich ein wohlhabender Republikaner direkt an Trump gewandt und gesagt, diese Aktion führe dazu, dass er seine besten Arbeiter verliert. Es gibt einen großen Unterschied zwischen Europa und den USA: Wir haben unsere Berufsschulen abgeschafft, wir bilden keine Handwerker aus. Und viele der Menschen, um die es hier geht, sind ausgebildete Arbeiter. Menschen mit einem gewissen Status. Es geht nicht nur um Kalifornien, es geht um die ganzen USA. Die amerikanische Wirtschaft läuft nicht ohne diese Leute. Wir haben dann niemanden mehr, der die Ernte einbringt, der das Fleisch zerlegt oder unsere Häuser baut.
Berliner-zeitung