Kein Aufgebot für Alisha Lehmann: Ihre Beziehung zum Nationalteam ist kompliziert


Alisha Lehmann ist 18 Jahre alt, als sie zum ersten Mal für das Nationalteam aufgeboten wird. Das Trainingslager in Japan inspiriert sie so sehr, dass sie sich entschliesst, Profifussballerin zu werden. Noch in derselben Saison schiesst Lehmann ihr erstes Länderspieltor und unterschreibt einen Vertrag in der höchsten englischen Liga.
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Acht Jahre und 57 Länderspiele später ist Lehmann zwar die mit Abstand berühmteste Schweizer Fussballerin. Doch das Verhältnis zum Nationalteam ist kompliziert. Es wird immer unwahrscheinlicher, dass sie an der Heim-EM im Juli dabei sein wird. Im Februar stand Lehmann zum letzten Mal im Aufgebot für einen Zusammenzug, fehlte aber wegen einer Verletzung. Für die zwei Spiele der Nations League in den nächsten Tagen, die letzten Ernstkämpfe vor der EM, steht sie nur auf der Pikett-Liste.
Die Nationaltrainerin Pia Sundhage begründet das mit Lehmanns geringer Einsatzzeit in ihrem Verein Juventus und kleineren Blessuren. Sie sagt aber auch, dass die Tür weiterhin offen stehe – in ein erstes Trainingscamp darf die Trainerin 30 Spielerinnen mitnehmen.
Die Kids kreischen, als wäre sie ein Pop-StarErhält Lehmann eine Absage, fehlt nicht einfach eine Fussballerin, sondern ein Phänomen. Die 26-Jährige erreicht mit jedem Social-Media-Post so viele Menschen wie Roger Federer, Yann Sommer und Granit Xhaka zusammen. Wie viele ihrer fast 17 Millionen Follower durch sie tatsächlich Zugang zum Frauenfussball finden, ist zwar kaum abzuschätzen. Mit ihrem Auftreten trifft sie bei einer jüngeren Generation aber einen Nerv: Im Stadion kreischen Mädchen, sobald Lehmann den Ball berührt.
Die EM im Sommer wäre nicht die erste, die Lehmann verpassen würde. Im Mai 2022 verschickte der Schweizerische Fussballverband ein Communiqué: «Nationalspielerin Alisha Lehmann verzichtet im Juni auf das EM-Vorbereitungs-Camp und entsprechend auch auf eine EM-Teilnahme.» Sie selber wurde so zitiert: «Es ist ein persönlicher Entscheid. Ich fühle mich mental nicht bereit für ein EM-Turnier.»
Das «mental» wurde flugs zu mentalen Problemen umgedeutet, was sie später energisch von sich wies. Es war ein typisches Missverständnis: So offenherzig sich Lehmann zeigt, so diskret ist sie, wenn es um ihr Privatleben geht. Das Interesse an ihrer Person muss mit Spekulationen befriedigt werden – wie das eben so ist bei Superstars.
Als Lehmann im Februar 2023 ins Team zurückkehrte, sagte sie: «Manchmal passieren im Leben unvorhersehbare Dinge, bei mir war es etwas Persönliches. Das wollte ich nur mit meiner Familie und engsten Freundinnen teilen.» Sie sagt aber auch: «Rückblickend würde ich das sicher anders lösen, aber ich habe aus dem Fehler gelernt.»
Die schnelle Lehmann galt noch vor wenigen Jahren als Nachfolgerin von Ramona Bachmann und Ana-Maria Crnogorcevic in der Offensive. Doch sie spielte in der Auswahl wie in ihren Klubs unregelmässig. In der Zwischenzeit haben Naomi Luyet, Iman Beney und Sydney Schertenleib das Nationalteam im Sturm erobert: junge Spielerinnen mit einem grossen Potenzial. Mit den Jahren prägte Lehmanns Image die öffentliche Wahrnehmung mehr als ihre fussballerischen Fähigkeiten. Neuerdings wird sie in einigen Medien «Nati-Influencerin» genannt.
Vorgeworfen werden Lehmann ihre Engagements neben dem Fussball. Lara Dickenmann, ehemalige Nationalspielerin, sagte im «Blick», Lehmann sei durch ihre Aktivitäten zu stark abgelenkt. Lehmann tritt neben dem Fussball als Gesicht der Bademode-Kampagne von Tezenis auf, einer italienischen Bekleidungsmarke. In der englischen Version der Baller League, eines Hallenfussball-Formats, das Sport und Unterhaltung kombiniert, coacht sie ein Team. Sie pflegt diverse Werbekooperationen. Dazu kommen die Schnipsel aus ihrem Alltag, all die Selfies, die sie in hoher Kadenz auf Instagram und Tiktok präsentiert.
Auf diesen Schnipseln sieht es aus, als lebte Lehmann auf einem anderen Planeten als ihre Kolleginnen; in den sozialen Netzwerken folgen ihr Musikstars wie Cardi B oder Drake, sie mag fette Autos und Jonglieren am Strand in Dubai. Im Frauenfussball, der in Abgrenzung zum Männerfussball auf Nahbarkeit macht, mag das frivol erscheinen. Und in der Schweiz, in der eingeebnet wird, was zu gross werden will, löst ungehemmte Selbstdarstellung sowieso Missbilligung aus.
Aber ist Lehmann durch ihre Aktivitäten wirklich abgelenkt vom Fussball, wie Dickenmann sagt? Lia Wälti, Captain des Nationalteams, macht neben ihrem Job bei Arsenal ein Fernstudium, sie absolviert die Trainerausbildung und hat eben zusammen mit ihrer Schwester ein Kinderbuch herausgegeben. In einem Interview mit der NZZ sagte sie kürzlich: «Ich bin zwar Profifussballerin, aber der Tag hat neben der Schlafenszeit sechzehn Stunden. Die kann man auch schlau nutzen.»
Am Ende geht es nicht zuletzt darum bei Lehmann: dass ihre Aktivitäten in den Augen ihrer Kritiker als nicht besonders schlau gelten. So, als gäbe es eine anständige Art, Geld zu verdienen, und eine schlechte. Diese unterschiedliche Beurteilung sieht auch Wälti als Problem, wie sie kürzlich in der SRF-Sendung «Gredig direkt» sagte: «Bei mir sagt niemand etwas, weil ich neben dem Fussball Dinge tue, die vielleicht mehr angesehen sind.» Dass Profifussballerinnen die Gelegenheit nutzen, abseits des Rasens ihre Finanzen aufzubessern, ist nachvollziehbar. Ihre Gehälter sind in den meisten Fällen nach wie vor bescheiden.
Lehmann selbst kann die Aufregung nicht nachvollziehen. In ihren raren Interviews betont sie stets, dem Fussball klare Priorität einzuräumen. Das bestätigte auch Wälti bei Gredig: «Wir sehen, dass Alisha genau so viel investiert wie alle anderen.» Wie sie ihre Freizeit gestalte, lenke das Team weder ab noch beeinflusse es jemanden. In einem Podcast ihres Arbeitgebers Juventus sagte Lehmann kürzlich, dass sie gar nicht oft an ihrem Handy sei, dass ihre Social-Media-Managerin ihr sage, wann sie etwas posten solle. Kritisieren die Menschen ihr üppiges Make-up, legt sie zum Trotz einen noch auffälligeren Lippenstift auf.
Mehr Mühe mit den harschen Kommentaren hat Lehmanns Mutter: Sie nahm sie kürzlich auf Instagram in Schutz. Lehmann selber trifft die Kritik nur, wenn sie von jemandem aus ihrem Umfeld kommt – wie jene von Dickenmann. Ihr hat sie gesagt, dass sie die Aussagen verletzt hätten.
Dringlicher Appell von LehmannManchmal macht es den Anschein, als fremdle Lehmann mit dem Nationalteam. Als sie 2022 ihren Verzicht auf die EM-Teilnahme bekanntgab, zeigte sie sich kurz darauf mit ihrem damaligen Freund am Strand. Übertrieben grosse Nähe zu den Kolleginnen suggerierte das nicht. Ein Fehler, wie sie nach ihrer Rückkehr ins Team zugab. «Manchmal bin ich nicht die beste Person, wenn es um Kommunikation geht», sagte die Kommunikatorin, die mit Selbstpromotion viel Geld verdient. Als sie beim letzten Zusammenzug fehlte, postete sie Bilder aus Dubai. Das ist zulässig. Aber ist es auch klug?
Den Eindruck, dass da eine gewisse Distanz ist, versucht Lehmann zu ändern. Kurz bevor die Nationaltrainerin das Kader für den nächsten Zusammenzug präsentierte, gab Lehmann dem Portal «20 Minuten» ein Interview. Zur Nichtnomination für den vorherigen Zusammenzug sagte sie: «Das hat mich sehr getroffen. Ich habe Stärken, und mit diesen will ich dem Team helfen. Ich war wirklich sehr, sehr enttäuscht.» Der Appell klang dringlich, vorerst verhallte er ungehört.
Kann man denn Alisha Lehmann wirklich zu Hause lassen? Muss man ihre enorme Reichweite an der Heim-EM nicht nutzen, auch wenn sich andere Stürmerinnen mehr aufdrängen? Wer die Geschichte des Frauenfussballs kennt, weiss, dass dieser permanent um Anerkennung kämpft. Darum, für die Leistung auf dem Rasen ernst genommen zu werden. Vor diesem Hintergrund kann der Entscheid des Verbandes kein anderer als ein rein sportlicher sein.
Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»
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